In Zeiten von Trauer wird besonders viel und intensiv Musik gehört. Das liegt für Musiker, Musikproduzent und Neurowissenschaftler Daniel Levitin an dem unmittelbaren Zusammenspiel von Musik und den chemischen Prozessen im Gehirn, die sie auslöst – und einer Verbindung, die so alt wie die Menschheitsgeschichte selber ist.

Daniel Levitin: In den 80er und 90ger Jahren habe ich bevor ich Neurowissenschaftler wurde, als Musikproduzent gearbeitet und ich erinnere mich, dass Warner Brother das „Unplugged“ Album von Eric Clapton nicht rausgeben wollten. Sie dachten, das Clapton Publikum wolle das nicht hören.
Andreas Robertz: Es war vor allem Eric Claptons Song Tears in Heaven aus dem Jahr 1992, den die Produzenten nicht veröffentlichen wollten. In ihm thematisierte er den Tod seines vierjährigen Sohnes Connor. Mit über 10 Millionen verkauften Platten wurde er einer seiner größten Hits.
Musik ist in der Lage, komplizierte Gefühle wie Trost, Verlust, Einsamkeit und Sehnsucht auszudrücken und erlebbar zu machen. Für Neurowissenschaftler Daniel Levitin liegt das unter anderem auch an der Jahrtausende alten Geschichte, die wir Menschen mit Musik haben:
Daniel Levitin: Wir haben keine Beweise für irgendetwas Älteres, das Homo Sapiens miteinander verband, als Musik. Die ältesten Artefakte, die wir in Begräbnisstätten bei Home Sapiens und Neandertaler gefunden haben, sind Musikinstrumente. Und weder heute noch irgendwann in der Vergangenheit gab es eine Kultur, die keine Musik hatte. Musik muss eine wichtige Funktion erfüllen, wie Essen und Schlafen, Liebe machen und die anderen Dinge, die wir so tun.
Andreas Robertz: Besonders live gesungene und gespielte Musik hat einen starken Effekt auf die neurochemischen Prozesse im Gehirn. In einer berühmten Studie mit kleinen Babys am Louis Armstrong Center for Music and Medicine konnten Wissenschaftler 2013 nachweisen, dass gesungene Schlaflieder weit mehr als aufgenommene Musik oder Naturgeräusche in der Lage waren, Babys zu beruhigen und deren Verdauung anzuregen. Daniel Levitin war damals Teil des wissenschaftlichen Teams.

Daniel Levitin: Wenn Menschen zusammen singen, gibt es Belege dafür, dass das Neurohormon Oxytocin ausgeschüttet wird. Das sorgt dafür, dass Menschen sich mehr miteinander verbunden fühlen und das Vertrauen untereinander erhöht wird. Wir wissen auch, dass, wenn Leute Musik hören, die sie tröstlich finden, speziell traurige Musik, Prolactin ausgeschüttet wird, dasselbe beruhigende Hormon, das Mütter ausschütten, wenn sie ihre Babys stillen.
Andreas Robertz: Wie tröstlich und heilend Musik sein kann, erfuhr er am eigenen Leib, als sein bester Freund plötzlich verstarb.
Daniel Levitin: Mein bester Freund aus meiner Kindheit: Wir waren unzertrennlich und ich dachte immer wir würden zusammen alt werden und auf einer Parkbank sitzen und über unser Leben reden. Er starb plötzlich mit 37 und ich komme immer noch nicht darüber weg. Ich höre immer Musik, die wir mochten und das hilft mir, mich ihm nah zu fühlen.
Andreas Robertz: Trauern, Erinnerungen, Sich Verbunden-fühlen: normalerweise sind es vor allem Gegenstände und Fotos, die helfen, den Verlust einer Person emotional zu verarbeiten. Aber ähnlich wie bei Gerüchen und Geschmacksrichtungen, resoniert Musik auf direktere Weise mit unseren Erinnerungen als Visuelles.
Daniel Levitin: Wenn wir Musik hören, klingt es so, als käme es aus unserem Kopf, obwohl es da draußen ist, aus Lautsprechern oder Kopfhörer. Aber wenn wir ein Foto ansehen oder ein visuelles Objekt, ist es außerhalb von uns. Hörbare Objekte klingen, als kämen sie von innen.
Andreas Robertz: Die Assoziationen zwischen Wahrnehmung und Erinnerung sind dann besonders stark, wenn sie mit einer außergewöhnlich intensiv empfundenen Zeit, einem Ort oder einer Person verbunden sind. Musik ist in der Lage, diese Assoziationen auszulösen.
Daniel Levitin: Der Trick ist, wie wir es aus dem Kopf kriegen, weil da so viel drin gespeichert ist. Man braucht den richtigen, ich nenne ihn Abrufcode. Geruch zum Beispiel hat einen einzigartigen Zugang zur Erinnerung. Das ist so, als wenn du einen ganz bestimmten Ordner in deinem Computer finden willst, aber du hast Hundertausende von Ordnern und du hast den Namen vergessen. Du musst die richtigen Wörter finden, ihn zu identifizieren. Das ist genauso, wie mit dem Code. Das ist es, was im menschlichen Gedächtnis mit Musik vor sich geht.
Andreas Robertz: Musik ist für Daniel Levitin wie eine warme Decke, wenn es kalt geworden ist, ein guter Freund, der da ist, wenn andere fehlen. Das ist für ihn das Einzigartige an Musik.
Daniel Levitin hat mehrere New York Times Beststeller geschrieben, unter anderen „This is your Brain on Music“ und „The World in Six Songs“.