Covid-19 und die Legende von John Henry

Wenn kulturelle Mythen den Körper auslaugen

von Andreas Robertz

Eine der traurigen Tatsachen der Corona Pandemie in den USA sind die unverhältnismäßigen hohen Zahlen an Opfern unter schwarzen Männern. Nach einer Studie des medizinischen Online Journals der Public Library of Science kurz PLOS Medicine war die Sterblichkeitsrate von Afroamerikanern zwischen 35 und 44 im Juli neun mal so hoch wie unter weißen Gleichaltrigen, der größte Anteil davon bei Männern. Das lässt sich nicht allein durch Armut, beengte Lebensverhältnisse oder eine schlechtere medizinische Versorgungslage erklären, denn viele dieser Männer waren Familienväter mit festen Berufen. Epidemiologe Sherman James hat 40 Jahre lang über die Bedeutung von chronischem Stress auf das Herz-Kreislauf-System geforscht, um herauszufinden, warum die Lebenserwartung afroamerikanischer Männern so deutlich unter dem Durchschnitt der amerikanischen Gesellschaft liegt. Und ist dabei auf die Legende des Stahlarbeiters John Henry gestoßen. Seine Forschung hat durch die Pandemie eine ganz neue Aufmerksamkeit gefunden. Andreas Robertz hat mit ihm gesprochen.

O-Ton James: Wenn wir über die Bedeutung von psychologischem Stress nachdenken, müssen wir auch untersuchen, wie Menschen auf Stress antworten. Was machen sie, wenn sie gestresst sind? Wie gehen sie damit um?

Für Epidemiologe Sherman James brachte die Erkenntnis, dass kulturelle Mythen einer gesellschaftlichen Gruppe eine hohe Auswirkung auf deren Stresslevel haben, den Durchbruch in seiner Forschung.

O-Ton James: Eine andere Weise, wie Menschen auf Stress reagieren, ist, dass sie sich entscheiden, sehr hart zu arbeiten. Sie versuchen alles, einem Weg zu finden, die Probleme in ihrem Leben zu lösen. Sie geben trotz dieser Herausforderungen einfach nicht auf.

Autor: Und die Herausforderungen waren für einen schwarzen Mann in der amerikanische Gesellschaft immer schon unverhältnismäßig höher als für einen weißen. Um trotzdem den Kampf gegen diese massive Benachteiligung aufzunehmen, erzählten sich die Menschen die Legende von John Henry, einem ungebildeten Stahlarbeiter in den frühen 1870er Jahren, als zehntausende von schwarzen Arbeitern die Gleise für Amerikas transkontinentale Eisenbahn legten. Eines Tages sei er zu einem Wettkampf mit einer Maschine herausgefordert worden, die seine Arbeit ersetzen sollte. Gemäß der Legende kämpfte er viele Stunden gegen sie und gewann zum guten Schluss. Doch aus physischer und mentaler Erschöpfung brach er danach tot zusammen.

O-Ton James: Die Legende von John Henry half, ganz normalen Schwarzen der Arbeiterklasse, die oft weder schreiben noch lesen konnten, über ihr Leben zu reden und ihren Kindern zu vermitteln, was es heißt, ein schwarzer Amerikaner zu sein; welchen Hindernisse ihnen begegnen werden, wie sie sie überwinden können und wie sie trotz nachteiliger Gesetze und sozialer Normen im Leben vorankommen können.

Autor: Arbeite hart, erwarte nichts und gib niemals auf. John Henry wurde zum positiven Vorbild in einer Umwelt voller Rassismus und negativer Stereotype.

O-Ton James: Es ist wichtig, darüber im Kontext der Lebenserfahrung von schwarzen Männern zu reden, weil die negativen Stereotypen so mächtig sind, diese Vorurteile, dass  schwarze Männer gefährlich, kriminell, verantwortungslos und faul sind. John Henryismus war dagegen sehr positiv. Es war ein Weg, sich diesen Klischees zu widersetzen und positiv über schwarze Männer zu reden.

Autor: Zusätzlich zu diesen heroischen Werten von extremer Belastbarkeit, Unnachgiebigkeit und Fleiß, kommt die Verantwortung für die eigene Gemeinschaft dazu. Doch angesichts dieser hohen Erwartungen stellt sich die Frage, ob aus der positiven Legende nicht ein Fluch geworden ist.

O-Ton James: Einerseits gibt einem die Entschlossenheit, etwas aus seinem Leben zu machen und anderen dabei noch zu helfen, ein Gefühl von Sinn. Und einen Sinn zu haben verleiht gute psychische Gesundheit. Diese Menschen haben ein niedriges Risiko depressiv zu werden und tendieren eher dazu, sehr gute Beziehungen zu haben. Sie sind gesellschaftlich eingebunden, was ebenfalls ihre Gesundheit fördert.

Autor: Doch wenn die Umstände sich verschlechtern, verkehrt sich der Nutzen dieser Lebensphilosophie ins Gegenteil:

O-Ton James: Es ist eine paradoxe Beziehung: In Umständen extremer Not, Armut und wenn man nicht mehr vor den brutalsten Formen von Rassismus schützen kann, dann ist John Henryismus vielleicht gut für die mentale Gesundheit, aber man zahlt physisch einen Preis dafür. 

Autor: Sherman James beschreibt, wie die Pandemie ihre Opfer besonders bei Personen mit Bluthochdruck, Diabetes und einem vorgeschädigtem Herz-Kreislauf Systems findet. Viele, die gestorben sind, seien moderne John Henrys gewesen: hart arbeitend, ehrgeizig, optimistisch, hartnäckig und sozial aktiv. Unter ihnen Freischaffende, Unternehmer, Sporttrainer und Seelsorger, oft doppelt belastet zwischen kranken Eltern und jungen Kindern. Ihr Tod habe die schwarzen Communities auf unabsehbare Zeit getroffen, glaubt Sherman James. Das einzige was hilft, sagt er im leidenschaftlichen Ton, sei ein fundamentales gesellschaftliches Umdenken oder in der Allegorie der Legende gesprochen, die Maschine muss sich ändern.

O-Ton James: Ändert die Gesetze und investiert in die Communities. Schafft neue Anreize für junge Leute, junge Afroamerikaner. Sorgt für eine gute Erziehung vom Kindergarten bis zum College und investiert in die Menschen, damit sie es leichter haben, ihre Träume zu erfüllen. Das ist was wir brauchen. Deswegen war das Wählen so wichtig. Damit Leute in Machtpositionen kommen, die Gesetze verabschieden, die die Intensität der Kräfte, die alles so schwierig machen, reduzieren. 

Die Einsicht in die Bedeutung kultureller Mythen wie der Legende von John Henry hat Sherman James geholfen, den Zusammenhang zwischen kultureller Dynamik und Gesundheit besser zu verstehen. Seine Einsichten könnten für den Umgang mit Krankheiten wegweisend sein.

O-Ton James: Beimarginalisierten Communities in multiethnische Gesellschaften wie den USA ist es wichtig, zu versuchen, deren Anfälligkeit gegenüber verschiedener Krankheiten zu verstehen. Sei es Herz-Kreislauf Erkrankungen oder Covid-19, man muss die verschiedenen Gründe für diese Anfälligkeit verstehen, ihre objektiven und subjektiven. Und das bedeutet, dass man wirklich mit den Menschen reden muss, um ihre Perspektive kennen zu lernen und zu verstehen, wie sie ihre eigene Verwundbarkeit sehen und damit umgehen.

Deutschlandfunk Tag für Tag: Religion und Gesellschaft

Author: Andreas Robertz

is a German cultural journalist and theater director living in New York City. He has directed and produced more than 80 shows of all genres in Germany, the US and Mexico City. As journalist he has written numerous articles for the cultural desks of several German and Austrian broadcasting companies.