Wenn Schmerzmittel zur Eintrittsdroge werden
Das Bronx Documentary Center zeigt eindringliche Fotoausstellung über die Opioid Krise in den USA
von Andreas Robertz
Die Corona Situation in den USA hat sich spürbar entschärft. In den meisten Staaten müssen nur noch Nicht-geimpfte eine Maske tragen, Geschäfte, Bars, Sportarenas und Veranstaltungszentren laufen langsam wieder mit voller Kapazität, die akuten Infektionszahlen bestimmen nicht mehr die Schlagzeilen. Doch durch die Pandemie ist eine ganz andere Gesundheitskrise in den USA fast vollständig in Vergessenheit geraten: die Opioid-Krise, die, glaubt man den Statistiken, seit 2016 jedes Jahr 64.000 Menschen das Leben kostet. Das Zentrum für Dokumentation in der New Yorker Bronx will mit ihrer neuen Ausstellung diesen Notstand neu ins Bewusstsein holen, auch aus eigenem Interesse, denn die Bronx ist ein Brennpunkt im Kampf gegen Heroin Sucht in New York. „The Human Cost“ – der menschliche Preis – eine Fotoausstellung über die Opioid Krise in den USA – ist den Menschen hinter den Statistiken gewidmet, mit Bildern und Texten von Fotografen, deren Fotos normalerweise aus internationalen Kriegs- und Krisengebieten kommen.
Die Menschen hinter den Statistiken
Fotos einer Krise: Zwei Notsanitäter im nächtlichen Einsatz in Miamisburg, Ohio. Sie beleben einen Mann wieder nach einer Überdosis in seinem Auto, in ihren Gesichtern professionelle Routine.
Eine Frau unter einer Schnee verwehten Laderampe in Boston, sie versucht sich in der klirrenden Kälte die Nadel in den Arm zu stechen.
Zwei junge Frauen sitzen mit all ihrem Hab und Gut gegen eine Hauswand in San Francisco gelehnt. Eine von ihnen setzt sich gerade einen Schuss in die Achselhöhle.
Fotojournalist James Nachtwey und Time Magazine Redakteur Paul Moakley reisten monatelang durch verschiedene Gegenden in den USA, um Geschichten von Menschen zu dokumentieren, die von der Opioid Krise betroffen sind: Süchtige, Angehörige, Sanitäter und Polizisten. Die Alltäglichkeit vieler Szenen ist erschreckend. In kurzen Untertiteln erfährt man etwas von den Menschen auf den Fotos: ihre Namen, ihr Alter, der Ort des Geschehens, manchmal auch ihre Umstände.
Es ist einfach überall
Für Kurator Michael Kamber ist die Situation vergleichbar mit internationalen Kriegs- und Krisengebieten, die er für die New York Times jahrelang dokumentiert hat:
Michael Kamber: Es gibt ein riesiges Heroinproblem in Kleinstädten überall in Amerika. Es ist kein schwarzes oder weißes Problem, kein städtisches oder ländliches, es ist einfach überall. Und wir wissen, dass die Sackler-Familie und andere Opioid-Firmen dieses Zeug ausgeschüttet und dabei eine Schlüsselrolle bei der Entstehung dieser Suchtwelle gespielt haben.
Schmerzmittel wie Oxycodone und Percocet haben die Krise ausgelöst. Sie wurden in großen Mengen gegen chronische Schmerzen verschrieben, ohne die Betroffenen auf deren gefährliches Suchtpotential aufmerksam zu machen.
Ärzte, Pharmakonzerne und staatliche Zulassungsstellen verdienten Milliarden, während Hunderttausende von Patienten ahnungslos in die Abhängigkeit gerieten. Und mit ihnen ihre Familien und Freunde.
Milliardengeschäft für Ärzte und Pharmakonzerne
Fotograf Jeffrey Stockbridge hat das Arbeiterviertel Kensington im Süden Philadelphias über sechs Jahre dokumentiert. Seine Bilder sind weniger drastisch als die von Nachtwey, aber umso intimer.
Jeffrey Stockridge: Die Menschen auf diesen Bildern haben alle freiwillig mitgemacht. Sie haben mir nicht nur erlaubt sie zu fotografieren, sondern haben mir von ihrem Leben erzählt, ihrem Alltag und wie sie versuchen, die Sucht zu überleben. Und ich denke, das offenbart etwas grundlegend Menschliches. Wir reden hier über menschliche Widerstandsfähigkeit. Wie überlebt man etwas so Brutales? Wie macht man das? Die Tiefe der Stärke, die sie haben, fasziniert mich.
Neben einigen der Portraits hängen Briefe, in denen die Süchtigen – oft sind es Frauen – von der Brutalität ihres Lebens berichten. Manch zittrige, kaum leserliche Handschrift erzählt dabei mehr als die Worte, die sie aufgeschrieben hat. Kensingtons Portraits zeigen Menschen jenseits von Opferklischees, deren Gesichter oft so widersprüchliche Gefühle wie Schmerz und Stolz, Schwäche und Stärke ausdrücken.
Der verhängnisvolle American Way of Life
Für Jeffrey Stockbridge hat das Ausmaß der Krise auch etwas mit der US-amerikanischen Mentalität zu tun.
Jeffrey Stockbridge: Es war „the perfect storm“ Es gab jede Menge belastete Menschen, keine Krankenkasse, keine psychische Gesundheitsfürsorge. Und die Leute hier in den USA sind mit diesem Quatsch aufgewachsen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen: Selbstmedikation und sich Zusammenreißen. Und dann verschreiben Ärzte noch diese Mittel in großen Mengen; buchstäblich Milliarden von Pillen werden jährlich in den USA konsumiert.
Autor: „The Human Cost“ ist eine engagierte Ausstellung mit einem sehr persönlichen Ton: erschreckend, berührend und ermutigend. Für Kurator Michael Kamber ist es wichtig, die Diskussion am Leben zu erhalten.
Michael Kamber: Wir werden jetzt keine Lösung finden, aber wir hoffen diese Diskussion ist produktiv. Und um ganz ehrlich zu sein, ich möchte dass unsere Studierenden das sehen und Angst bekommen. Ich möchte, dass sie richtig Angst haben.
so großartig,Andreas ! Ich lese Deine Publikationen mit großer Neugier und großem Respekt!
Danke!
Thank you for sharing these absolutly touching news and stories with us !
Das freut mich total…. Tausend Dank für die Blumen. Du kannst die Beiträge und den Newsletter gerne weiterempfehlen, wenn du magst.