„Appropriate“ von Branden Jacobs-Jenkins in Starbesetzung mit Sarah Paulsen
von Andreas Robertz
Afro-amerikanische Dramatiker gehören seit Jahren zu den wichtigsten Autoren im US-amerikanischen Theater. Einige Theaterkritiker sprechen sogar von einer Renaissance schwarzer Dramatik. Der Autor Branden Jacobs-Jenkins spricht allerdings davon, dass der Begriff „schwarze Dramatik“ Autoren wie ihn in eine Schublade zwänge: Stücke von schwarzen Autoren müssen immer sozialkritisch sein, von Rassismus handeln oder vom Leid der Vorfahren. Warum könne er kein Familiendrama schreiben, in dem seine eigene Hautfarbe keine Bedeutung hätte? Oder ein Stück nur mit weißen Charakteren? Jetzt hat sein Stück „Appropriate“ am Broadway Premiere: ein Familienstück mit einem weißen Ensemble.
„Appropriate“ hat im Englischen eine interessante Doppelbedeutung: als Adjektiv bedeutet es „angemessen“ oder „verhältnismäßig“, verwendet man es als Verb, heißt es, dass sich einer etwas widerrechtlich zu eigen macht. Man kennt das heute aus dem Bereich der kulturellen Appropriation.
Alle 13 Jahre versammeln sich unter ohrenbetäubendem Krach in den alten Bäumen einer Plantage in Arkansas Billionen von Zikaden, um sich zu paaren, bevor sie sterben. Aus diesem Geräusch haben die Sounddesigner von „Appropriate“ eine Kakophonie aus metallischem Zirpen, Naturgeräuschen und verhallenden Stimmen gemacht, die von allen Seiten das im Dunkeln sitzende Publikum wie einen unheimlichen Kokon einhüllt. Dann öffnet sich endlich der Vorhang und man sieht den hohen zweistöckigen Salon einer alten Südstaatenvilla im fahlen Mondlicht: ein beeindruckend schönes Bühnenbild des Design Kollektivs DOTS. Später im Tageslicht erkennt man dann, dass das grandiose Interieur mit Büchern, alten Computern, Möbeln, Kleidern und anderen Utensilien völlig zugemüllt ist. Der Hausherr ist gestorben und es muss ausgemistet werden.
Bissiges Familiendrama am Broadway
Seine drei erwachsenen Kinder haben einander seit Jahre nicht gesehen. Jetzt sollen sie das Erbe begutachten und die alte Villa versteigern. Die älteste Schwester Toni, die sich in den letzten Jahren um ihren Vater gekümmert hat, und ihre beiden Brüder Bo und Frank haben dabei sehr Unterschiedliches im Sinn: Toni, deren Ehe gerade zu Bruch geht, trauert und will sich an ihren Brüdern rächen, die sie allein gelassen haben, Bo will so viel Geld wie möglich aus der Sache schlagen und Frank, der in seiner Jugend viel Unsinn gemacht hat und drogenabhängig war, sucht Vergebung und Verständnis. Als Bos kleine Tochter ein Fotoalbum mit gelynchten Afro-Amerikanern aus der Jim Crow Zeit entdeckt, bricht ein Krieg um Erbe und Vermächtnis aus. Denn der verstorbene Daddy, ein angesehener Richter, darf alles sein, nur kein Rassist.
Mischung aus Satire und Melodram
Dramatiker Branden Jacob-Jenkins hat aus dieser saftigen Konstellation das bösartige Familiendrama einer weißen Familie gestrickt, die sich lieber gegenseitig zerfleischt, als sich ihrer Vergangenheit als ehemalige Sklavenbesitzer und Ku Klux Klan Anhänger zu stellen. Und er tut dies unglaublich unterhaltsam in einer Mischung aus Satire und psychologischem Melodram.
Toni ist mit Sarah Paulsen optimal besetzt. Horrorfans kennen die Schauspielerin aus Serien wie American Horror Story und Ratchet. Auf der Bühne macht sie sich aggressiv über das Leid aller anderen lustig, während sie ihr eigenes glorifiziert.
Unter der Regie von Lila Neugebauer wird sie im zweiten Teil dann sogar fast sympathisch, wenn sie über ihren Vater spricht, der sie geliebt haben soll, während alle anderen in der Familie sie nur ausgenutzt hätten. Doch keiner der Protagonisten hat die Kapazität, sich in den anderen hineinzudenken, geschweige denn Mitgefühl zu entwickeln.
Was keiner benennen will
Das Stück handelt aber auch von dem, was sich der Sprache entzieht. Niemand findet Worte für den Schmerz der Gelynchten und Ermordeten. Da wird die Erwähnung eines alten Sklavenfriedhofs schon zu einer gefährlichen Gratwanderung. Und als sich herausstellt, dass das besagte Fotoalbum für Sammler Millionen von Dollar wert sein könnte, verliert Bo jeden Anstand. Vielleicht, so argumentiert er, könne die Plantage mit dem Geld aus den Fotos der gelynchten schwarzen Frauen und Männer doch noch gerettet werden. Hier erreicht die Farce ihren Höhepunkt an Bösartigkeit.
Regisseurin Lila Neugebauer hat mit ihrem Ensemble eine gute Balance zwischen Komik und Drama gefunden und in ihrer Inszenierung ganz auf die Psychologie der Figuren gesetzt. Was bedeutet es angemessen über den Schmerz anderer zu reden? Und ab wann macht man sich deren Schmerzen zu eigen, um sich selbst als Opfer aufzuspielen, während man eigentlich Täter ist? Eine grundlegende Frage zum Verhältnisse des weißen Amerikas zu seinem Umgang mit afro-amerikanischer Geschichte.
Am Ende, wenn alle längst die Villa verlassen haben, lässt Neugebauer das Haus lebendig werden, als würden die Geister der Vergangenheit in ihren Mauern leben. In Zeitraffer sehen wir es verfallen: die Scheiben zersplittern, es regnet hinein und Pflanzen erobern sich die alten Treppengeländer und Balustraden. Nur das laute Zirpen der Zikaden bleibt dasselbe.