Das „Under The Radar Festival“ in New York erfindet sich neu
von Andreas Robertz
Es sieht zurzeit nicht gut für die Theater in New York aus: Immer noch kommen weit weniger Touristen in die Stadt als vor der Pandemie, was besonders den Broadway trifft, denn Mieten und Produktionskosten sind gestiegen. Bei vielen Off-Broadway Häusern fließt weniger privates Geld ins jährliche Budget und die Zahl der New Yorker, die ins Theater gehen, ist zurückgegangen. Das bedeutet weniger Produktionen für den Off-Broadway, mehr Musicals und weniger riskante Stücke für den Broadway. Als im Mai das Public Theater, eines der größten Off-Broadway Häuser, das renommierte internationale „Under The Radar Festival“ nach 18 Jahren absagte, lief eine Schockwelle durch die Theaterszene. Stirbt New York als innovativer Theaterort aus? Doch das Festival hat sich in nur 8 Monaten neu erfunden und viele neue Partner gefunden. Letzte Woche hat es zum 19ten Mal seine Tore im „Global Village“ New York geöffnet.
Brave Romanadaption
Ein Probenraum im Lincoln Center in Midtown Manhattan. Das Publikum sitzt überall im Raum verteilt, in der Mitte ein Tisch mit ein paar Requisiten. Vier Mitglieder eines Buchclubs spielen die Handlung eines Romans nach. Der Roman, den sie sich ausgesucht haben, ist der Bestseller „The First Bad Man“ von Miranda July. Er handelt von einer Frau in der Mitte ihres Lebens, die die viel jüngere Tochter ihrer Chefin aufnimmt, die auf Wohnungssuche ist. Zwei Welten prallen aufeinander: die respektlose, bequeme, sexuell aktive Gee und die Gastgeberin Sheryl, die einen Kontrollwahn? hat und in einer seltsamen Fantasiewelt lebt. Die beiden werden ein Paar, dessen Beziehung von Gewalt und Sex geprägt ist. Dieses dramatische Setting des Romans aber wird auf der Bühne ein viel zu leicht leicht verdaulicher Abend, weil die provokanten Szenen weitgehend ausgeblendet oder karikiert werden. An die Brisanz des Romans kommt diese Adaption nicht heran.
Long live the sisterhood
Nur zwei Türen weiter im Lincoln Center ist die Produktion „Queens of Sheba“ zu sehen. Die britische Dramatikerin Jessica Hagan und ihre vier Darstellerinnen führen das Publikum in das Land von Misogynoir, einem Ort an der Schnittstelle von Frauenfeindlichkeit und Rassismus. In poetischen Versen berichten die jungen Frauen von den vielen alltäglichen Mikro- und Makroaggressionen von weißen und schwarzen Männern, denen sie ausgesetzt sind. In einer Tour de Force machen sich die Darstellerinnen schließlich Mut zu mehr Schwesterlichkeit – mit viel Humor und den Liedern von Dianna Ross, Tina Turner und Aretha Franklin. Ein toller Abend über Widerstand und Solidarität.
New York ohne Funk?
Dieses Festival ist wirklich wichtig für New York, denn New York steht kurz davor, seinen Funk und seine Seele zu verlieren. Irgendwie schafft es das Festival die Art von Chaos, die wir geliebt haben, und den anarchischen, aber kreativen Geist, der New York ausmacht, wieder in die Stadt hineinzubringen. Das ist es, was wir versuchen, am Leben zu erhalten.
Als Festivaldirektor Mark Russell in einer Videoschaltung im Mai erfuhr, dass sein Festival seinen Hauptspielort verloren hat, war sein erster Impuls reiner Trotz. Inzwischen wuchs daraus ein neues Konzept, das mehr Institutionen einbindet, die nicht nur Gastspielorte sein wollen, sondern auch Mitproduzenten und Mitkuratoren.
Für Mark Russell bedeutete das aber auch, künstlerische Kontrolle abzugeben und so verschiedene Spielorte wie die schicke Japan Society, das etablierte Lincoln Center, das experimentelle La Mama Theater und das Community orientierte Abron Art Center gleichberechtigt teilhaben zu lassen. Herausgekommen ist ein dezentrales Festival mit so vielen Veranstaltungen wie noch nie.
In einem grinsenden Lebkuchenmann Kostüm stolpert der amerikanische Performer Nile Harris über die Bühne und schreit immer wieder mit stark verzerrter Stimme, dass er nicht lachen werde, während seine Kollegin Crackhead Barney nackt und grau bemalt mit Windeln und blonder Heidi Perücke das Publikum provoziert. „Fuck Affirmativ Action“ schreit sie mit rauer Stimme, und spielt dabei auf das vom obersten Gericht gekippte Gesetz an, das Minderheiten einen Anteil an Studienplätzen garantierte. Oder sie jagt „zionistischen Seifenblasen“ nach und schreit zum Vergnügen des Publikums „Free Palestine“, wenn sie zerplatzen.
Wildes Performancetheater
Die Uraufführung von „This house is not a home“ im Abron Art Center hat es in sich: eine wilde, laute, halb improvisierte und kluge Abrechnung mit dem Amerika dieser Tage, jenseits der „political correctness“.
Irgendwann wird eine riesige Hüpfburg auf der Bühne aufgeblasen und gestürmt, weil es der 6. Januar ist und „Insurrection Day“, also der Tag an dem vor drei Jahren das Kapitol gestürmt wurde. Und am Ende sitzt das Publikum vor einer Plastikfolie mit der Aufschrift „You are in trouble Nigga“ während dahinter auf der zugenebelten Bühne eine einzelne rote MaGa Kappe, das Markenzeichen von Donald Trump, vor einem leeren Mikrofonständer schwebt.
Das Konzept des Festivals scheint aufzugehen, denn die neuen Veranstaltungsorte bewerben die Veranstaltungen, als seien es ihre eigenen: viele der knapp 150 Vorstellung sind schon ausverkauft. Vielleicht ist New York doch noch nicht verloren.