Die Mumien von Guanajuato

von Andreas Robertz

Die Mumien von Guanajuato
Paloma Robles Lacayo und die Mumien von Guanajuato

Die Landeshauptstadt Guanajuato nördlich von Mexico City hat das drittstärkste besuchte Museum Mexikos. In ihm werden Mumien von Menschen ausgestellt, die im 19ten Jahrhundert in der Stadt lebten und aufgrund des Paloma Bodens mumifiziert wurden. Doch viele Jahre war das Museum mehr Kuriositätenkabinett,  als ernstzunehmendes Museum. Erst 2015 wurden Standards zur Restauration der Mumien eingeführt. Der geplante Neubau des Museum 2022 in einem Einkaufszentrum löste eine breite Debatte über die Würde von Mumien aus, in der Stadt und im ganzen Land.


Tag für Tag Deutschlandfunk

Paloma Robles Lacayo ist von Hause aus Chemikerin und Kulturanthropologin und immer noch sehr bewegt, wenn sie von ihrer ersten Begegnung mit den Mumien von Guanajuato berichtet.

Der Zustand der Mumien war sehr schlecht. Viele von ihnen wurden seit 1904 ausgestellt, die ersten von ihnen bereits in den 1870er Jahren. Um 1900 waren es 70 Mumien und viele sind heimlich gezeigt worden. Als ich im Dezember 2015 ankam, hatte ich den Eindruck, dass sie nie eine professionelle Pflege erfahren haben. Ich habe einen biologischen Anthropologen aus Mexico Stadt kommen lassen, der auf den Schutz und die Restauration von mumifizierten Überresten spezialisiert war, und er hat bestätigt, dass das Museum in keinem schlechteren Zustand sein könnte.

117 Mumien hat das Museum insgesamt, von einem 7 Monate alten Fötus bis zu 70 jährigen Frauen und Männern. Die ersten von ihnen wurden 1865 im benachbarten Friedhof von Santa Paula ausgegraben, weil die Angehörigen die Grabpacht nicht mehr bezahlen konnten. Durch den mineralreichen Boden waren die Leichname mumifiziert worden, Haut und Haare blieben erhalten. Einige von ihnen waren anscheinend lebendig begraben worden, ihr schmerzhafter Gesichtsausdruck durch die Mumifizierung eingefroren.

Die Mumien von Guanajuato – ein Kuriositätenkabinett

Für die nächsten 120 Jahre wurden sie mehr oder weniger heimlich zur morbiden Freude und gegen bare Münze in einem dunklen Keller ausgestellt. Einige wurden sogar einem amerikanischen Geschäftsmann ausgeliehen, der mit ihnen durch die USA tingelte. Erst 1988 wurden die jetzigen Ausstellungsräume neben dem Friedhof zur Verfügung gestellt, angeblich um den Verstorbenen mehr Würde zu geben. In dem Labyrinth-artigen dunklen Museum wurden sie jedoch wie in einem Gruselkabinett ohne Namen oder Kontext in historischen Kleidern ausgestellt. Der Besucherandrang war enorm, das Museum steht in der Besucherstatistik Mexikos auf Platz 3. Erst als die Stadt Guanajuato 2015 Bundesmittel für das Museum beantragen wollte, musste eine professionelle Direktorin angestellt werden.

Ich habe gesehen, dass sie mit den Mumien auf sehr grausame Weise umgegangen sind. Das hat mich wütend gemacht. Niemand beschützte sie und wenn ich nichts tun würde, würden sie zerstört werden. Damit hätte ich nicht leben wollen.

Als Robles Lacayo das Museum vier Jahre später verließ, waren professionelle Richtlinien zur Pflege und zum Umgang mit den Mumien eingeführt, ein wissenschaftliches Archiv angelegt und feste Kooperationen mit der anthropologischen Fakultät der mexikanischen Universität UNAM etabliert worden. 90 der 117 Mumien konnten identifiziert werden und auf Wandtafeln erfuhr der Besucher etwas über den historischen und individuellen Kontext der „Human Remains“, wie man menschliche Überreste in der Fachwelt nennt.

Die Kommerzialisierung menschlicher Überreste

Doch die Tatsache, dass das Museum die zweitgrößte Einnahmequelle der Stadt ist, ließ neue Begehrlichkeiten entstehen. 2020 fand ein Plan des neu gewählten Bürgermeisters eine Mehrheit im Stadtrat, ein neues Einkaufszentrum zu bauen und die Mumien dort in großen Vitrinen auszustellen.

Die Mumien waren Überreste von Menschen, die niemand verteidigte und sie konnten sich auch nicht selbst verteidigen. Es kam mir sehr grausam vor, dass niemand einen Finger rührte. Was ich in dem Vorschlag gelesen hatte, war die grenzenlose Vermarktung der Körper. Also veranstalteten wir nackte Proteste vor dem Parlament. Es gibt einen bioethischen Text, der besagt, dass Leichen den maximalen Ausdruck menschlicher Verwundbarkeit darstellen, weil sie das Material von Wesen darstellen, die ihre Bedürfnisse und Wünsche nicht mehr selbst zum Ausdruck bringen können. Also entschied ich, die Mumien nicht allein zu lassen, sondern sie zu begleiten und zu verteidigen. Denn es ging nicht nur um die Würde der Toten, sondern um die Würde der ganzen Stadt.

Die Würde der ganzen Stadt

Im Zuge der Demonstrationen folgte Guanajuatos erstes Volksbegehren, Petitionsbriefe von Individuen und Institutionen, die Solidarität der örtlichen Kaufmannsgilde und nationale Medienaufmerksamkeit. Für 96 Tage und Nächte standen Menschen am geplanten Baugrund des Einkaufszentrums Wacht. Doch erst ein politischer Skandal um die Vergabe der Geschäftsflächen und die Drohung der UNESCO der Stadt Guanajuato den Titel „Welterbe“ zu entziehen, wendete das Blatt. Am 22. August diesen Jahres wurde das Projekt abgesagt und die Fördergelder zurückerstattet. Das Museum darf neben dem alten Friedhof von Santa Paula, wo die menschlichen Überreste vor 150 Jahren entdeckt wurden, bestehen bleiben und bekommt sogar zusätzliche Gelder für die Renovierung der Räume. Und der Schutz der Mumien wurde in einem Landesgesetz festgeschrieben:

Die Stadtverwaltung hat jetzt in Bezug auf die Mumien einige legale Instrumente bekommen, die klar sagen, dass die Körper mit Respekt, Würde und Rücksicht behandelt werden müssen und können keinesfalls Gegenstände von Eigentum sein.

Doch das Wichtigste für Paloma Robles Lacayo ist, dass der Kampf um die Rechte der Mumien den Bürgern der Stadt einen neuen Gemeinschaftssinn gegeben hat.