Junge Seelen in Gefahr

Die psychische Gesundheitskrise unter Kindern und Jugendlichen in den USA übertrifft alle Befürchtungen.

von Andreas Robertz

Gesundheitskrise unter Jugendlichen in den USA
artbykleiton

Immer mehr Medien in den USA berichten über eine beispiellose psychische Gesundheitskrise unter Kindern und Jugendlichen, zuletzt die New York Times mit einer ganzen Serie von Artikeln. Die Berichte sind voll herzzerreißender Geschichten über Kinder und junge Teenager, die sich seit Jahren selbst verletzen, ohne dass die Eltern es gemerkt haben, die im Internet nach Möglichkeiten suchen, sich das Leben zu nehmen oder es bereits aktiv versucht haben, Geschichten über verzweifelte Eltern, die nicht wissen, wie sie helfen können. Das amerikanische Gesundheitssystem scheint auf eine solche Krise nicht vorbereitet zu sein. Seit Jahren werden stationäre Möglichkeiten für gefährdete Jugendliche abgebaut, kinderpsychiatrische Einrichtungen nach Misshandlungs- und Missbrauchs-skandalen einfach geschlossen. Politiker versuchen, die Situation auf die Pandemie zu schieben, doch unter Fachleuten ist klar: Sie ist nicht schuld an der Krise, sondern hat die vorhandene Situation nur verstärkt.



Dr. JoAnna Leyenaar:  Jedes fünfte Kind in den Vereinigten Staaten hat eine diagnostizierte psychische Störung und wegen des Mangels an psychiatrischen Fachkräften erhält leider weniger als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen die psychiatrische Behandlung, die sie benötigen.

Dr. JoAnna Leyenaar

JoAnna Leyenaar ist Kinderärztin und Professorin an der medizinischen Fakultät des Dartmouth Institute in der Nähe von Boston. Zusammen mit mehreren Kollegen hat sie gerade eine Studie herausgegeben zur Situation in den Notaufnahmen landesweit. Ihr Fazit:

Dr. JoAnna Leyenaar: Leider übersteigt der Bedarf die verfügbaren Betten für Kinder und Jugendliche bei weitem, was zu diesem „Boarding“-Phänomen führt, bei dem sie in der Notaufnahme warten müssen, bis ein Bett verfügbar wird.

In ihrer Untersuchung hat die Medizinerin Daten von 88 Kinderkliniken gesammelt: In 99 % der Fälle mussten im Schnitt mehr als vier Jugendliche jede Nacht in einer Notfallaufnahme übernachten und dort im Durchschnitt 48 Stunden bleiben. Wenn man die Daten der knapp 4000 allgemeinen Notfallambulanzen hinzunimmt, komme man zu dem Ergebnis, sagt sie, dass landesweit im Schnitt bis zu 4000 Jugendliche täglich in Notaufnahmen übernachten. Leyenaar spricht von einer Boarding Pandemie. Schon vor der Corona-Krise habe sich die Art der psychischen Krisen dramatisiert.

Eine “Boarding” Pandemie

Dr. JoAnna Leyenaar: Zum Beispiel war von 2007 bis 2016 die Gesamtzahl der Notaufnahmebesuche für Kinder zwar gleich, aber die Besuche wegen vorsätzlicher Selbstverletzung stiegen um über 300 %.

Diese Tendenz habe sich während der Pandemie verschärft. Und wenn sich Jugendliche selbst verletzen, brauchen sie Räume, die speziell dafür ausgestattet sind. Folgt man den Vorgaben amerikanischer Gesundheitsämter, sollte kein Minderjähriger in einer akuten Krise länger als 4 Stunden in einer Notaufnahme verbringen. Der Stress, das Chaos, der Lärm und die Hektik sind kontraproduktiv für die jungen Patienten. Trotzdem berichtet zum Beispiel die Notaufnahme des größten Kinderkrankenhauses in Boston von einer durchschnittlichen Wartezeit auf ein stationäres Bett von neun Tagen – eine unerträgliche Situation für alle Beteiligten. Waren die Krankenhäuser trotz jahrelanger Warnungen nicht auf eine solche Krise vorbereitet?

Dr. JoAnna Leyenaar: Krankenhäuser haben oft beträchtliche Ressourcen investiert, um sicherzustellen, dass Jugendliche sicher sind, dass sie weder sich selbst, noch uns schaden. Aber die Sicherheitsprotokolle gehen auf Kosten der Patienten, weil sie oft ihre Bewegungen, ihre Aktivitäten und ihre Interaktionen mit anderen einschränken. Und wenn das Tage bis Wochen dauert, ist das extrem hart für die Jugendlichen. Und es ist wirklich sehr demoralisierend für das Personal.

Die Notfall Aufnahme ist kein Ort für gefährdete Jugendliche

Eine im April dieses Jahres vom amerikanischen Gesundheitsamt CDC veröffentlichte Umfrage unter 8000 Jugendlichen unterstützt die Zahlen von Leyenaars Studie. Demnach berichten 44 % der Jugendlichen, unter anhaltenden Gefühlen von Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit zu leiden. Mehr als jedes vierte Mädchen gab an, ernsthaft über Selbstmord nachzudenken, unter Jungs jeder Achte. Das sind die höchsten je ermittelten Werte einer Befragung dieser Art. Dieser Trend betraf alle Jugendlichen, losgelöst von ethnischer Zugehörigkeit oder sexueller Orientierung.

Doch woran liegt diese dramatische Entwicklung? Für Dr. Leyenaar ist das die „Eine Millionen Dollar Frage“.

Auch für Psychologin Ramani Durvasula gibt es da keine einfachen Antworten. Wichtig sei, die veränderten Realitäten sowohl der Kinder, als auch der Eltern in den Blick zu nehmen.

Der Druck der Eltern

Dr. Ramani: Eine Sache, die wir in den Vereinigten Staaten sehen, ist, dass wir in den letzten 10 Jahren auf eine Generation junger Erwachsener blicken, deren Kinder es finanziell nicht so gut gehen wird, wie die Generation vor ihnen. In den letzten 50 oder 60 Jahren hat jede Generation besser abgeschnitten als die vorherige. Das ist jetzt anders. Eltern übertragen viel von dieser Erwartungsangst auf ihre Kinder. Sie kommunizieren das ihren Kindern und manche verinnerlichen diese Angst.

Die veränderte wirtschaftliche Realität mache sich in vielen Bereichen bemerkbar: im Wettbewerb um die besten Schulen, bei der absurden Preisspirale um begehrte Schul- und Studienplätze, bei der Verschuldung von Eltern. Bei den befragten Jugendlichen standen neben Gefühlen von Einsamkeit Überforderung und Leistungsdruck ganz oben auf der Liste. Doch für Ramani ist der wichtigste Unterschied zu der Generation der Eltern die Allgegenwart des Internets und der sozialen Netzwerke.

Digitale Muttersprachler

Dr. Ramani: Diese Generation hatte das Internet so ziemlich von Geburt an. Es hat ihre Eltern, ihre Pädagogen und offensichtlich ihre eigene Erfahrung in der Welt geprägt. Und soziale Medien sind ein Ort des Drucks. Es ist ein Ort des sozialen Vergleichs. Wo Jugendliche sich früher mit Mitschülerinnen und Mitschülern verglichen haben, die im Englisch- oder Sportunterricht neben ihnen saßen, vergleichen sie sich jetzt mit Kindern und Jugendlichen auf der ganzen Welt. Sie können dabei nicht gewinnen, besonders wenn Bilder verfälscht werden und gelogen wird. Sie vergleichen sich im Grunde mit Fantasie-Unwahrheiten.

Eine Tatsache, die besonders für das Selbstbild junger Mädchen fatale Folgen haben kann. Dazu komme die Allgegenwart digitaler Bilder, oft gewalttätig und sexualisiert, die jüngere Jugendliche kaum verarbeiten können. Sie seien denen oft hilflos ausgesetzt. Es helfe allerdings nicht, soziale Medien zu verteufeln, denn in den allermeisten Fällen berichten Jugendliche, es mindere ihre Angst- und Einsamkeitsgefühle.

Ein Fall für Anthropologen

Um den Einfluss sozialer Medien auf die Welt junger Menschen wirklich zu verstehen, müsse man, so Ramani, wie ein seriöser Anthropologe vorgehen, der eine neue Kultur untersucht. Dazu gehöre auch, den Jugendlichen mehr zuzuhören, um ihre Welt verstehen zu lernen, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen oder gar autoritär den Medienumgang im Krisenfall zu verbieten. Gefühle von Einsamkeit seien für Jugendliche sehr viel bedrohlicher als für Erwachsene. Was Schulen leisten könnten sei, den jungen Menschen zu zeigen, wie sie die Welt der sozialen Medien kritischer navigieren können.

Kritisches Denken bereits in der Grundschule

Dr. Ramani: Wir müssen Kindern kritisches Denken in Bezug auf soziale Medien beibringen. Pädagogen und Schulverwalter sehen soziale Medien oft als Ablenkung, als etwas, das außerhalb der Schulstunden passiert. Aber es muss bereits in der Grundschule in den Schulplan integriert werden, um jungen Menschen beizubringen, kritisch darüber nachzudenken, was sie dort sehen.

Aber Ramani ist pessimistisch, dass damit den Jugendlichen auf Dauer wirklich geholfen ist, denn keine andere Altersgruppe reagiert so sensible auf globale Themen wie Klimawandel, Krieg und soziale Ungerechtigkeit. Das Hauptaugenmerk nur auf das Management von psychischen Krisen zu legen, nehme das Leiden ihrer Meinung nach nicht ernst genug.

Zurück in ein kaputtes System

Dr. Ramani: Wir versuchen, Individuen in einem kaputten System zu helfen. Empathie, Mitgefühl, Zugang zu einer besseren psychischen Gesundheitsversorgung, eine bessere Aufklärung über den Umgang mit sozialen Medien, das ist alles gut. Aber dann werfen wir diese Jugendlichen zurück in die Krankheitswelt, in der wir leben. Wenn wir das reparieren wollen, müssen wir die Ungleichheit bei den Einkommen ins Visier nehmen, die Wohnungskrise, das wirtschaftliche Chaos. Wir müssen die Tatsache, dass wir wirklich grausamen. bösartige Führer an die Macht lassen, ansprechen, dass wir Erfolg nur an Finanzen messen. Aber wir legen stattdessen die Verantwortung auf den Einzelnen: Lassen Sie uns, das Individuum reparieren. Jeder Einzelne, den ich kenne, tut sein Bestes inmitten einer wirklich schlimmen Welt.