Im Paradies des Waldes

Roundabout Theater zeigt “The Refuge Plays” von Nathan Alan Davis.

von Andreas Robertz

m Paradies des Waldes - Roundabout Theater zeigt "The Refuge Plays" von Nathan Alan Davis
0077 (l to r): Jessica Frances Dukes (Gail) and Ngozi Anyanwu (Joy) in Roundabout Theatre Company’s production of The Refuge Plays, in associate with New York Theatre Workshop.

Wie viele Menschen leben in einer Familie? Brüder, Schwestern, Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten… ganz zu schweigen von den Toten, die in Bildern und Objekten, Geschichten und Erinnerungen auch noch anwesend sind. Für viele ist das System Familie ein dichtes Netzwerk aus Erwartungen und Verpflichtungen, dem man entkommen will, für andere ist es ein Ort der Heimat, wie kein anderer. Der afro-amerikanische Dramatiker Nathan Alan Davis hat am Roundabout Theater in New York nun sein Familien Drama „The Refuge Plays“ uraufgeführt – ein Abend, in der die Familie selbst zum Zufluchtsort wird.


Originalbeitrag

Im Paradies des Waldes

Ein „Refuge“ ist im Englischen ein Unterschlupf, ein Zufluchtsort, eine Schutzhütte – ein Ort, der manchmal versteckt ist und schwer zugänglich; während „refugee“ Flüchtling bedeutet und Menschen meint, die ein solches Refuge suchen. Nathan Alan Davis „Refuge Plays“ erzählt die epische Geschichte einer schwarzen Familie über drei Generationen, die irgendwo in den Wäldern von Illinois einen solchen Zufluchtsort gefunden haben. Eigentlich sind es sogar fünf Generationen, wenn man die Geister der Vorfahren mitzählt, die hier völlig selbstverständlich die Lebenden in dem kleinen Haus aufsuchen. Und manchmal weiß man auch nicht so genau, ob die Familie den Ort, der am Rande des Realen zu existieren scheint, ausgesucht hat, oder der Ort sie.

Gail lebt dort mit ihrer Tochter Joy, deren Sohn HaHa und ihrer Schwiegermutter Early. Das Innere des Hauses ist einfach, die Möbel zusammengesucht: ein Bett, ein Sofa, ein großer Ohrensessel und ein Schlafsack auf dem Boden für HaHa, eine alte Küche und ein Bücherregal. Das Stück beginnt damit, dass Gails toter Mann Walking Man als Geist ganz in Weiß die Schlafenden besucht und Gails nahen Tod ankündigt. Der zweite Akt spielt vierzig Jahre früher und erzählt die Geschichte der beiden, und der dritte Akt spielt sechzig Jahre früher, als Großmutter Early an demselben Ort, der damals nur eine Lichtung war, Walking Man gebiert und ihren damaligen Mann Crazy Eddie trifft – zwei Flüchtlinge auf der Suche nach einer Bleibe für ihre Familie.

Eine Reise in die Vergangenheit

Das Rückwärtserzählen der Geschichte ist eines der interessantesten Aspekte des drei Stunden langen Abends, weil die Handlung so fast wie in einer archäologischen Ausgrabung schichtenweise abgetragen wird und man durch die Zeit die ursprünglichen Hoffnungen und Motive der Figuren erleben kann. So wird Großmutter Earlys Gereiztheit und Zynismus verständlich, wenn man sieht, was es sie gekostet hat, diesen Ort für ihre Familie zu erschaffen. Oder Walking Mans Getriebenheit, weil eine Vergewaltigung auf seiner Geburt lastet und seine Seele keine Ruhe finden kann.

0163 (l to r): Jon Michael Hill (Walking Man) and Nicole Ari Parker (Early) in Roundabout Theatre Company’s production of The Refuge Plays, in associate with New York Theatre Workshop.
0959 (l to r): Daniel J. Watts (Crazy Eddie) and Lance Coadie Williams (Dax) in Roundabout Theatre Company’s production of The Refuge Plays, in associate with New York Theatre Workshop.

Trotz dieser ernsten Themen ist der Abend Dank eines unglaublich wandlungsfähigen Ensembles, der humorvollen Dialoge und der vielen absurden Momente zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen der Banalität des Todes und des Dramas der Geburt, nie langweilig – wenn auch manchmal lang. Ein alter Lastwagen, der direkt aus der Fernsehserie „Die Waltons“ stammen könnte, ist die einzige Verbindung zur Außenwelt – toll, wenn er ganz am Ende sogar auf die Bühne fährt. Und er entpuppt sich auch als Gefährt zu der „anderen“ Welt, denn drei der Figuren inklusive Gail vom Anfang werden in Unfälle verwickelt und sterben im Lastwagen. Der Übergang zieht sich so auch als thematische Klammer durch das Stück.

Kein sozialer oder politischer Kontext

Der Abend kommt fast völlig ohne sozialen und politischen Kontext aus. Man weiß, dass Eddie verwundet aus dem ersten Weltkrieg kommt und später dann erneut aus dem zweiten. Ein Onkel erscheint, der in den Fußstapfen von James Baldwin auf der Suche nach sexueller Freiheit nach Paris auswandern will. Und HaHa, Gails Enkel, liebt Ralph Ellisons Roman “Invisible Man” von 1952: darin muss ein Schwarzer lernen, dass weder Bildung, noch Arbeit, noch das Streben nach politischer Macht irgendetwas an der Situation der Afroamerikaner in der Welt des weißen Mannes ändern wird.

Doch man fragt sich, ob es einen solchen Ort des Rückzugs und des Friedens heute noch geben kann. Das Stück zeigt eine Märchenwelt und wirkt ein wenig wie Balsam auf die durch Krieg, Klimawandel und sozialen Niedergang verwundete Zuschauerseele. In dem Sinne mag das Stück auch ein „Refuge“ für sein Publikum sein. Oder ist alles nur Allegorie? Er müsse das Buch auch verstehen, sagt Großmutter Early zu HaHa, und nicht nur lesen. „Deine Welt kannst du nur hier drinnen finden“ und tippt ihm dabei auf die Brust.