Jack Whitten The Messenger

Abstraktion und Politik – das MoMA zeigt überwältigende Retrospektive von Jack Whitten, eines Pioniers der Schwarzen Kunstszene

von Andreas Robertz

Jack Whitten im MoMA
Ausschnitt Jack Whitten “Four Wheel Drive”, 1970, Acrylic on canvas, in: Jack Whitten The Messenger, MoMA 2025


Museen in den USA stehen unter massiven Erpressungsversuchen seitens der Trump Regierung. Wenn sie sich weigern, ihre Programme zu Vielfalt und Inklusion zu beenden oder Ausstellungen von Künstlern sogenannter Minderheiten abzusagen, werden ihnen alle Gelder gestrichen. Das Smithsonian Museum und die National Gallery haben dem bereits Folge geleistet, das Art Museum of the Americas in Washington zwei Ausstellungen lateinamerikanischer Künstler*innen im April abgesagt. Doch dieses Klima scheint die grossen Museen in New York bisher nicht einzuschüchtern. So zeigt das Whitney eine grosse Soloausstellungen der stummen Künstlerin Christine Sun Kim, das Met eine kritische, feministisch inspirierte Ausstellung europäischer Porzellankunst und das MoMA eine grossen Retrospektive des eher unbekannten afroamerikanischen Malers Jack Whitten. Die Washington Post nannte ihn den “wichtigsten amerikanischen Künstler, von dem Sie noch nie gehört haben”. Eine Augen öffnende Ausstellung über einen visionären abstrakten Künstler


Originalbeitrag

Jack Whitten wurde 1939 in Alabama als Sohn eines Bergarbeiters und einer Schneiderin geboren. Er war Mitglied der frühen Bürgerrechtsbewegung und flüchtete Mitte der 60er Jahre nach New York, wo er Kunst studierte und Freundschaften mit Künstlern schloss, die seine Arbeit tief beeinflussen sollten: John Coltrane, Miles Davis, Willem de Kooning und Jacob Lawrence. Innerhalb der Schwarzen Kunstbewegung der 60er und 70er Jahre war abstrakte Kunst als “europäisch Weiss” verpönt, die Bewegung brauche klare gesellschaftliche Aussagen und die Beschäftigung mit soziale Themen. Doch Jack Whitten blieb dem Abstrakten sein Leben lang treu, erklärt Kuratorin Michelle Kuo. Seine Bilder seien tief durchsetzt mit Bedeutung und Geschichte. 

Jack Whitten The Messenger

Jack Whitten in studio at 40 Crosby Street, New York with painting Rho I, Photograph by Paul G. Viani

Er war ein außergewöhnlicher Mensch. Er hat Rassismus erlebt und schwer darunter gelitten. Er wuchs im von Rassentrennung geprägten Süden auf. Er war Teil der Bürgerrechtsbewegung und erlebte die Gegenreaktion, als er demonstrierte. Und doch hat er diese Erfahrung von Ungerechtigkeit in eine Art Schöpfung von Schönheit umgewandelt. Es hat ihn angetrieben, die Kunst als eine Auseinandersetzung mit den Problemen der Welt zu sehen. Und er hoffte, dass seine Arbeit die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst wahrnehmen, verändern würde. 

Die meisten seiner grossformatigen Bilder sind farbige Flächen, oft mit Schlieren und verschwommenen Konturen, die auf den zweiten Blick andere Farbflächen und Strukturen dahinter enthüllen. So zum Beispiel eine im Licht glitzernde Fläche in Aquamarin, unter der braune Farbschichten zu sehen sind, als spiegele sich ein Gebäude auf der Oberfläche eines Sees. 

Jack Whitten im MoMA

Jack Whitten: Mirsinaki Blue, 1974, Acrylic on canvasn, in: Jack Whitten The Messenger, MoMA 2025
Jack Whitten The Messenger im MoMA
Jack Whitten: Liquid Space I, 1976, Acrylic slip on paper, in: Jack Whitten The Messenger, MoMA 2025

Oder eine braune Fläche, die bei genauem Hinsehen mit kleinen Kratern und Farbbläschen bedeckt ist, so dass der Eindruck von warmen Schlamm entsteht. Whittens Bilder scheinen in Bewegung zu sein, wie bei der Fotografie eines laufenden Menschen. Um diesen Effekt zu erreichen, begann er in den 70er Jahren seine Leinwände auf den Boden zu legen, mit Flächen von Farbe zu bedecken und mit einem Werkzeug, das er den Developer – den Entwickler – nannte, abzuziehen – eine einzige, 3 Sekunden lange Bewegung, die das Bild entstehen liess, wie bei der Belichtung einer Fotografie.

Whitten war fasziniert von Jazz-Improvisationen und dem Experimentieren mit Zufall und Struktur. Er strich mit einem Werkzeug über das Gemälde, so dass man nicht genau weiß, was am Ende dieses Abstreifens herauskommt, und gleichzeitig bereitete er die Leinwand und die Farbschichten so vor, dass er eine Art Struktur schaffen konnte, auf die er sich berufen konnte. Er freute sich über Überraschungen, war aber auch sehr strategisch, was die Art der Bilder anging, die er schaffen wollte. In dieser Dynamik zwischen Form und Freiheit, zwischen System und Spiel, fand er seine endlose Kreativität. 

Jack Whitten The Messenger im MoMA
The developer, Original Tool by Jack Whitten

In den 80er Jahren experimentierte er mit hitzeempfindlichen Farben aus Kopiergeräten und bearbeitete seine Bilder mit Haarkämmen, deren Effekt auf den Bildern an einen buddhistischen Steingarten erinnern. Er war fasziniert von byzantinischen Mosaiken und arbeitete mit getrockneter Acrylfarbe – schnitt sie in kleine Quadrate. Eines seiner Meisterwerke ist das enorme 3 x 6 Meter große Bild “Atopolis”, eine Hommage an den aus Martinique stammenden Poeten Édouard Glissant. Die Leinwand ist mit unzähligen Quadraten im schwarz-weiss-Farbspektrum bedeckt, die auf reliefartige Strukturen geklebt sind: es wirkt wie das Luftbild einer gigantischen Stadt bei Nacht oder eines zerbombten Trümmerfelds. 

Jack Whitten: Atopolis: For Édouard Glissant, 2014, Acrylic on canvas, 8 panels, in: Jack Whitten The Messenger, MoMA 2025

Mit ”Jack Whitten The Messenger” hat das MoMA eine wunderschönen Retrospektive ausgerichtet. Das liegt auch daran, dass die mehr als 175 Bilder und Skulpturen viel Raum zum Atmen haben und die Ausstellungsräume mit weissen, aus Latten bestehenden eleganten Raumteilern den optischen Effekt von Spiegelwänden suggerieren. 

Installation view of Jack Whitten: The Messenger, on view at The Museum of Modern Art, New York, from March 23 through August 2, 2025. Photo: Jonathan Dorado.
Installation view of Jack Whitten: The Messenger, on view at The Museum of Modern Art, New York, from March 23 through August 2, 2025. Photo: Jonathan Dorado.

Der Kriegszug der Trump Regierung gegen -sagen wir es ganz offen- nicht-weisse und nicht heterosexuelle Künstler*innen und die Programme, die sie fördern, suggeriert, deren Arbeit würden nur gezeigt, weil sie aus “sogenannten” Minderheiten kommen, und nicht, weil sie es verdient hätte. Die Ausstellung ist ein herausragendes Gegenargument zu dieser rassistischen Lüge. Whittens fast vier Jahrzehnte lange Beschäftigung mit abstrakter Malerei und Skulptur ist das beeindruckende Testament eines Künstlers, der Zeit seines Lebens versucht hat, seinen traumatischen Erlebnissen eine andere Welt entgegenzusetzen und dadurch einen Platz in dieser zu finden: ganz grosse Kunst. 

Jack Whitten starb am 20. Januar 2018. Die Ausstellung ist noch bis zum 2. August im MoMA in New York zu sehen. 

Author: Andreas Robertz

is a German cultural journalist and theater director living in New York City. He has directed and produced more than 80 shows of all genres in Germany, the US and Mexico City. As journalist he has written numerous articles for the cultural desks of several German and Austrian broadcasting companies.