Who’s Bad? MJ am Broadway

MJ – ein Bio Musical über Michael Jacksons eröffnet am Broadway

von Andreas Robertz

Who's Bad MJ am Broadway
Myles Frost in MJ, photo by Matthew Murphy

Es ist kurz vor 14 Uhr an einem regnerischen Mittwoch im New Yorker Theater Distrikt. Lange Schlangen stehen vor dem Neil Simon Theater, in wenigen Minuten beginnt die Vorstellung. Wie im Flughafen werden mit Sicherheitsschleusen Körpertemperaturen gemessen, Impfausweise geprüft und Tickets gescannt; Masken sind Pflicht.

Im Theater füllen sich die Ränge, die Vorstellung ist gut verkauft. Die Bühne füllt sich ebenfalls nach und nach: ein großer Raum mit hohen Fenstern und Tanzboden, ein Probenstudio. Langsam trudeln die Tänzer und Musiker ein, ein Bodyguard im schwarzen Anzug überprüft den Raum, der Regieassistent verkündet noch fünf Minuten und dann ist es soweit: Michael Jackson betritt den Raum, mit Fedora, weißem Hemd, zu kurzen schwarzen Hosen, weißen Socken und schwarzen Schuhen. Der Rhythmus von „Beat it“ wird angezählt und Regisseur und Choreograph Christopher Wheeldon lässt alle ikonischen „Moves“ des Pop Idols schon mal in der Eröffnungsnummer auffahren: der Moonwalk, die abgehackten Bewegungen, die angezuckten Schultern, der Griff in den Schritt, die Spins und Kicks. Große Teile des Publikums klatschen bereits begeistert – für viele scheint völlig klar zu sein, dass die Show großartig werden wird.

Für Dramatikerin Lynn Nottage war die Arbeit an dem Musical sicher ein extrem schwieriges Unterfangen. Spätestens seit der Ausstrahlung der HBO Dokumentation „Leaving Neverland“ des britischen Regisseurs Dan Reed im Januar 2019 über detaillierte Missbrauchsanschuldigungen gegen Michael Jackson war klar, dass es nicht so einfach würde, das von der Jackson Familie gewollte lupenreine Image des „King of Pop“ aufrecht zu erhalten. Die zweifache Pulitzerpreisgewinnerin sagte damals in einem Interview, sie sei erschüttert und versprach, sie würde diese Anschuldigungen auf keinen Fall in ihrem Musical verschweigen. Sie nannte Michael Jackson ein musikalisches Genie und “an immensely flawed human being” – ein ungeheuer fehlerhaften Mensch. Aufgebrachte Fans forderten damals, sie müsse sofort gefeuert werden. Sie wurde es nicht. Die Premiere von “Don’t Stop ’Til You Get Enough”, wie das Musical damals noch hieß, wurde in Chicago zwar abgesagt, aber nun Corona bedingt drei Jahre später hat es unter dem neuen Titel „MJ – the Musical“ am Broadway Premiere.

Who's Bad? MJ am Broadway
Myles Frost and cast in MJ, photo by Matthew Murphy

Das Musical spielt an einem kritischen Punkt in Michael Jacksons Karriere: 1992, zwei Tage vor dem Beginn seiner Dangerous Welttournee und gut einem Jahr vor den ersten Vorwürfen, Kinder auf seiner Farm Neverland sexuell missbraucht zu haben. Finanziell und gesundheitlich angeschlagen, braucht er die Tour um sein neues Album und die frisch gegründete Heal the World Foundation zu bewerben. Eine MTV Kameracrew nimmt die Proben auf, um die Tour zu promoten und gleichzeitig einen Blick hinter den extrem unzugänglichen Jackson zu werfen.

Durch dieses dramaturgisch kluge Setting gelingt es, Michael Jackson bei der Arbeit zu sehen, eine choreographierte Nummer nach der nächsten zu bringen – man ist ja schließlich in einem Probenraum – und durch die Fragen der Journalistin Rachel sein Leben Revue passieren zu lassen. Und das wird auch ausführlich getan, schließlich gehört die Kariere Michael Jacksons vom Wunderkind zum „King of Pop“ zu einer der Legenden der amerikanischen Popkultur, ganz besonders für die schwarze Community, denn mit ihm endete endgültig die Ignoranz der von weißen Produzenten beherrschten Musikindustrie gegenüber schwarzen Künstler*innen. 

Und so ist ein Teil des Musicals ein Stück schwarze Musikgeschichte: von den Anfängen der Soul Formation Jackson Five, den ersten Verträgen mit dem Motown-Label, Fernsehauftritten in der berühmten Soul Train Show, der legendäre Auftritt im Apollo Theater in Harlem und der Durchbruch als Solo Künstler mit Produzent Quincy Jones.

Eine zweite kluge dramaturgische Entscheidung ist, die Personen im Probenraum sämtliche Figuren der Geschichte spielen zu lassen. Dadurch gelingen wahnsinnig schnelle Übergänge, die der Produktion erlauben viel Tempo zu entwickeln. Regisseur und Choreograph Christopher Wheeldon nutzt diese Dynamik sehr geschickt, wenn es zum Beispiel darum geht, die Begeisterung der Jackson Five Ära zu portraitieren und den grauen Probenraum blitzschnell in das Soul Train Fernsehstudio zu verwandeln, mit seinen schrillen rosa und gelben Outfits, dem Afrolook und den breiten Schlaghosen. Nostalgie spielt eine große Rolle in der Aufführung und nicht selten merkt man an der Reaktion des meist mittelalten Publikums, dass ein Erinnerungsnerv getroffen wurde. Ein besonders schöner Moment gelingt, wenn Michael von seinen musikalischen Vorbildern erzählt. Die Bühne verwandelt sich in einen tiefblauen, jazzigen Raum und Bob Fosse tritt auf. Wheeldon kreiert eine minimalistische Choreografie zwischen Fosse und Jackson, in der sich manchmal nur die Hände bewegen, federleicht und magisch.

Doch Wheeldons Hauptarbeit bestand wohl darin, die ikonischen Choreografien der Jackson Videos zu reproduzieren. Diese Szenen gehören zu den Höhepunkten der Show. Eine kleine Notiz im Programmheft dankt den Co-Choreographen, die hinter Thriller, Beat it und Bad standen.

Who's Bad? MJ am Broadway
Myles Frost and Cast in MJ, photo by Matthew Murphy

Trotz dieser technisch gut gemachten Elemente – von der perfekten Ton- und Lichtregie, den detaillierten Kostümen und den beeindruckenden Videoprojektion ganz zu schweigen – fehlt dem Musical vor allem eins: Substanz. Der Grund dafür ist die viel zu oberflächlich erzählten Geschichte. Und das liegt nicht etwa an Myles Frost, der die Hauptfigur verkörpert. Der 33 Jährige Newcomer gibt eine überzeugende Vorstellung – von der butterweichen Stimmlage und der leicht gebückten Haltung bis hin zur kindlichen Verspieltheit seines Idols – einmal spritzt er mit einer Wasserpistole auf seinen Buchhalter, weil er von seinen finanziellen Problemen nichts wissen will. Doch die perfekt einstudierten Manierismen wirken nach einer Weile wie ein zu eng angelegtes Korsett und gibt Frost zu wenig Möglichkeiten, emotionale Tiefen in der Figur zu finden. Er bleibt letztendlich so unzugänglich wie Michael Jackson selbst.

Wer die Hoffnung hatte, neben der offensichtlichen Hommage an Jackson auch einen tieferen Einblick in den Menschen zu finden, wird enttäuscht. Das liegt im hohen Maße an dem weichgespülten Skript von Lynn Nottage. Man kann förmlich die Schachereien mit den Jackson Erben um die erlaubten Themen in den Dialogen spüren: Der Konflikt mit Vater Joseph – ja, aber nur psychologisiert; die Schmerzmittelsucht – ja, aber nur weil er so unter Schmerzen litt; die finanziellen Sorgen – ja, aber nur im Kontext mit seinen künstlerischen Ideen.

All das hat sie den Erben wohl gegen das Versprechen abgerungen, die Anschuldigungen von sexuellen Übergriffen zu thematisieren, Michaels obsessives Verhältnis zu Kindern und die Tatsache, dass er sich mit großzügigen Geschenken, den uneingeschränkten Zugriff auf die Kinder in seiner Obhut erkaufte, zu erwähnen. Das Skript konzentriert sich deswegen auf die psychologischen Auswirkungen des schwierigen Verhältnisses mit Vater Joseph. Aber auch das wird heruntergespielt. Aus dem brutalen Regiment des Vaters mit seinen physischen Züchtigungen wird im Skript eine gut verdauliche Ohrfeige, die von der weichherzigen Mutter mit dem Lied „I’ll be there“ weggetröstet wird. Ein emotional schöner Moment, der aber mit Klischeesätzen, wie: „Er will nur dein Bestes“, jeden, der physische Gewalt als Kind erlebt hat, nur den Kopf schütteln lässt.

Who's Bad? MJ am Broadway
Myles Frost and cast in MJ, photo by Matthew Murphy

Aus ihrem Versprechen von 2019 den ganzen Menschen zu zeigen, bleiben zwei vage Andeutungen übrig: Wenn der Regieassistenten den Manager fragt, was denn diese neuen Anschuldigungen sollen und der Buchhalter Michael, warum denn diese Familien mit auf die Tour müssen. Damit scheitert der Text an derselben Stelle, wie die Regie oder der Hauptdarsteller. Es gelingt einfach nicht, hinter das wohlpolierte Image des unverstandenen und letztlich harmlosen Genies zu schauen.

Man kann natürlich argumentieren, dass das von einem Musical zu viel verlangt ist und er ja schließlich auch freigesprochen wurde. Doch es geht gar nicht um einen Schuldspruch, sondern um unter den Tisch gekehrtes dramatisches Material, dass seiner Geschichte die notwendige Tiefe hätte verleihen können. So muss sich die Dramatikerin nicht nur die Kritik gefallen lassen, sie habe sich vor den Propagandawagen der Jackson Familie spannen lassen, sondern – und das ist schlimmer – ein Skript abgegeben zu haben, dass weit unter ihrer Möglichkeit als Dramatikerin liegt.

„MJ – Das Musical“ ist ein gut produzierter Tribut an einen der einflussreichsten  Musiker der 80er und 90er Jahre – mit einem fantastischen Ensemble, das sich in der klugen Regie und dynamischen Choreografie von Christopher Wheeldon in guten Händen weiß. Für eingefleischte Fans ist es ein Leckerbissen, für alle anderen ein Abend mit gemischten Gefühlen. Denn Theater ist nicht zeitlos und das Publikum nicht vorbelastet. Man kann die Reputation eines gefallenen Idols nicht mit dem Verschweigen seiner Nemesis erreichen. Ein Gedenken an die Opfer seiner Peter Pan Fantasien, sexuell missbraucht oder nicht, wäre mehr als angebracht gewesen. Doch dafür hätte man hinter die glitzernde Rüstung des „King of Pop“ schauen müssen.

(erschienen in Tanz Magazin 03/22 unter dem Titel: Das Peter Pan Syndrom)