Das neues Buch “Muse Sick” von Ian Brennan ist ein konzentrierter Aufschrei gegen die Musikindustrie und deren Scharade von Diversität.
von Andreas Robertz
Man könnte den amerikanischen Musikproduzenten Ian Brennan auch einen politischen Aktivisten in Sachen Musik nennen. Bekannt ist der 55jährige für seine Plattenproduktionen aus Regionen und Ländern, die in der internationalen Musikszene unterrepräsentiert sind. Seine Platte „Tinariwen‘s Tassili“ mit Musikern der Tuareg gewann 2011 den Grammy für bestes Album in der Kategorie Weltmusik, „Zomba Prison Project“ mit einer Gefängnisband aus Malawi wurde 2015 nominiert. Zwei Bücher hat er bereits über Musik, Demokratie und die Diktatur der englischen Sprache geschrieben. Sein neuestes Buch „Muse Sick“- kranke Muse – ist eine Manifest in 59 Thesen gegen die Korruption der Musik durch Massenproduktion und Kommerzialisierung und eine Handlungsanleitung für ein neues Hören.
Auf die Frage, an welche Tür Ian Brennan seine 59 Thesen, die er jetzt in Buchform präsentiert, am liebsten zuerst nageln würde, muss er nicht lange nachdenken.
Ian Brennan: I think Drake’s front door would be a good place you go up to Toronto and you know, it is his condo with the indoor swimming pool on the basketball court, we could, we could start there.
Er würde mit Drakes Haustür in Toronto beginnen. Denn für ihn ist der Produzent ein Inbegriff der Kommerzialisierung von Musik, die aus etwas an sich Lebendigem zunehmend etwas Vorproduziertes, etwas Verpack- und Vermarktbares machen würde. Pop Musik würde so immer mehr zu einem visuellen Produkt, einem Beiprodukt einer Marketingstrategie. So formuliert er es in einer der Thesen in seinem neuen Buch.
59 Thesen über eine kranke Industrie
Ian Brennan: Viele der 59 Thesen waren zuerst nur ein Satz, dann wurden es zwei und in einigen Fällen dann mehr als eine Seite. Aber im Grunde sollen sie einen sehr verdichteten und zusammenhängenden Bogen spannen, der zeigt, wie Kapitalismus und Geld die Tendenz haben, die Klarheit von Kommunikation, von Ausdruck und Kunst zu korrumpieren.
Inequality is violence
These 1: „Inequality is violence.“ – Ungleichheit ist Gewalt. Die Grundthese des heute 55jährigen Musikproduzenten ist genährt von vielen Jahren der Erfahrung mit Musikern in verschiedenen Ländern Afrikas, Rumänien und Vietnam. Aber auch, wie in seinem letzten Projekt, mit geistig behinderten Menschen, denen nach Brennans Eindruck oftmals jegliche musikalische Kompetenz abgesprochen wird. Brennan hat mehr als 40 Platten produziert und ist Autor von 6 Büchern.
“Wir haben versucht eine Plattform für Menschen anzubieten, die unterrepräsentierte sind. Ich glaube, wirkliche Vielfalt ist etwas völlig anderes als das, was uns präsentiert wird. Weil wahre Vielfalt non-binär ist, weder schwarz noch weiß. Sie liegt in der gesamten Bandbreite.“
Ungleichheit ist für Brennan das Gegenteil von Diversität und spiegelt sich auch in der Tatsache wieder, dass 99% der Musiker auf der Welt vom internationalem Markt ausgeschlossen würden. Nur drei Konzerne vertrieben 75% aller aufgenommen Musik, stellt er fest. Das bedeute einseitige Dominanz statt Diversität. Er kritisiert vor allem Streaming Dienste wie Spotify, deren Algorithmen letztendlich das Angebot bestimmen.
Die falsche Fantasie von Wahrscheinlichkeit versus Möglichkeit
Ian Brennan: Bei Spotify bekommen ein Prozent der Künstler 90 Prozent der Streaming Aktivität. Jeden Tag werden 62.000 Songs hochgeladen, rund 20 Prozent dieser Songs werden nie gehört. Das ist belegt. Da gibt es diese Fantasie von Wahrscheinlichkeit versus Möglichkeit. Und die Algorithmen haben die Tendenz, sei es bei den Nachrichten oder der Musik, den Leuten das zu geben, was sie schon kennen, das zu verstärken, was sie bereits glauben und mögen. Das ist keine Feier der Vielfalt.
Wenn man mit Ian Brennan spricht, wird seine Leidenschaft für Musik spürbar. Musik hören und Musik machen ist für Ian Brennan, der lange in der Aggressionsprävention gearbeitet hat, das Gegenteil von Zynismus und Gleichgültigkeit, beides Haltungen, die er in der extremen Kommerzialisierung der letzten Jahre wiederzufinden meint. Deswegen schlägt er einen Umgang mit Musik vor, der dem Hörer eine aktivere Rolle zubilligt. Man kann sich wehren, meint er, auch wenn man nicht alles gleich verändern muss.
Facebook verlassen ist ein revolutionärer Akt
Ian Brennan: Aber es gibt jede Menge konkrete Dinge, die ich tun kann, wie umsichtiger wählen, was ich höre, und aufhören an gefakten Spektakeln teilzunehmen. Ich glaube, den Superbowl nicht zu schauen, ist revolutionär, sich von Facebook abzumelden ist ein revolutionärer Akt.
In seinem Buch Muse Sick präsentiert sich der Autor als jemand, der den Umgang mit Musik in einen global-politischen Zusammenhang stellt, der sich sehr aktuell anfühlt. Seine Thesen sind unbequem und provozierend. Und auch wenn man seine scharfe Kapitalismuskritik nicht nachvollziehen mag, seine grundsätzlichen Beobachtungen zu Musik und unserem Umgang damit werden sicher so manchem Musiker aus der Seele sprechen.
Muse Sick von Ian Brennan ist verlegt bei PMPress