Das MoMA zeigt Retrospektive über Ruth Asawa aus sechs Jahrzehnten.
von Andreas Robertz

Die USA haben eine lange Tradition mit präsidialen Bestimmungen den Kongress zu umgehen und im Namen der nationalen Sicherheit Bevölkerungsgruppen fundamentale Bürgerrechte zu entziehen. Zum Beispiel Franklin D. Roosevelt, der nach dem Kriegseintritt Japans im Zweiten Weltkrieg mit einem Federstrich alle Bürger mit japanischen Wurzeln zu potentiellen Saboteuren und Spionen machte. Das Resultat waren mehr als 120000 jahrelang in Arbeitslager internierte Männer, Frauen und Kinder, ohne irgendeinen konkreten Beweis gegen sie: eines der dunklen Flecken in der amerikanischen Geschichte, die nach dem Willen der Trump Regierung nun auch aus allen Geschichtsbüchern entfernt werden soll. Eine dieser japanisch-amerikanischen Familien war die von Ruth Asawa, eine der wichtigsten abstrakten Künstlerinnen der neueren amerikanischen Kunstgeschichte. Das MoMA widmet ihr jetzt eine sechs Jahrzehnte übergreifende Retrospektive – die erste dieser Art seit ihrem Tod 2013.
Es sind lange, von der Decke hängende Skulpturen aus miteinander verhakten grauen Drahtschlaufen, die Ruth Asawa bekannt gemacht haben. Wie Insektenkokons hängen sie von der Decke, erst ganz dünn, dann gewölbt wie geflochtene Sphären oft mit anderen geometrischen Strukturen wie Kugeln, Trichtern oder konkaven Objekten gefüllt. Alles ist in einem Prozess entstanden, in manchen Fällen über Jahre. Wenn man herausbekommen möchte, wo die Objekte anfangen oder aufhören, sei es so, als versuche man den Beginn einer Möbiusschleife zu bestimmen, erklärt Kuratorin Cara Manes fasziniert.

Es ist die Idee eine kontinuierliche Form innerhalb einer Form zu schaffen. Es entsteht ein Gebilde aus Draht mit einer kontinuierlichen Oberfläche, das in ein anderes Gebilde übergeht ohne aufzuhören. Die Aussenseite der inneren Kugel wird zur Innenseite der nächsten. Viele Werke in der Ausstellung sind zu einem bedeutenden Beitrag in der Geschichte der abstrakten Skulptur geworden.
Die Ausstellung bringt mehr als 300 Objekte zusammen, darunter ihre sensationellen Zeichnungen von Blumen, alltäglichen Gegenständen oder ihren Kindern, Papierarbeiten, Aquarelle, Masken, ihr Drucke, ihre öffentlichen Monumente und immer wieder ihre Skulpturen. Doch wer war Ruth Asawa?
Sie wurde 1926 als Tochter japanischer Einwanderer in Südkalifornien geboren. Ihre Kindheit war geprägt von der Arbeit im Gemüseanbau ihrer Eltern. Wie Tausende anderer Menschen japanischer Abstammung wurde sie während des Zweiten Weltkriegs aufgrund der Verordnung 9066 der Bundesregierung zwangsweise interniert.
In einem dieser Lager lernte sie von drei ebenfalls internierten Grafikern der Walt Disney Studios das Zeichnen. Nach dem Krieg wollte sie Lehrerin werden, doch der Staat verweigerte ihr wegen ihrer Herkunft das Examen.
Sie ging zum Black Mountain College, einer freien, unabhängigen Kunstakademie in North Carolina, in denen viele, während des Krieges aus Deutschland geflüchtete Künstlerinnen und Künstlern unterrichteten, die sie mit den Ideen des Bauhaus vertraut machten.
Die Idee, sich an der Natur zu orientieren oder sich mit der Leere wohl zu fühlen fanden bei ihr als Kind zen-buddhistischer Eltern großen Anklang.
Ideen wie die Einheit von positivem und negativem Raum in einer Zeichnung zum Beispiel, etwas, das ihr aus der Kaligraphie vertraut war. In einer Zeichnung ihres Sohnes deutet sie nur mit seinem Haaransatz seinen ganzen Kopf an.

Die Ausstellung ist lose chronologisch aufgebaut und orientiert sich an Themen wie Raum, Material oder philosophischen Konzepten wie, das alles miteinander verbunden ist, oder ihrem Motto “Seeing is Doing” – Sehen ist Tun. Noch einmal Kuratorin Cara Manes:
“Sehen ist Tun” ist wie ein Credo, eine Art Philosophie: die Vorstellung, dass alles miteinander verbunden ist und dadurch alles verfügbar ist, dass alles erlaubt ist. Und deshalb muss man sich darauf einlassen. Und dieser totalen Akt des Schaffens beginnt mit dem Sehen.
Und nichts schien ihr dabei zu klein oder gewöhnlich, als das es nicht ihre ganze Neugier verdient hätte. Als ihr ein Freund eine vertrocknete Wüstenpflanze schenkt und sie sich ausserstande sieht, sie abzuzeichnen, kehrt sie zum Draht zurück, diesem, wie sie ihn nennt, dreidimensionalen Strich. Es entsteht eine grosse Anzahl von Skulpturen, die an Bonsai Bäume erinnern: Stränge von Draht, die sich in unzählige Zweige und filigranen Verästelungen ausformulieren: wunderschön und geheimnisvoll.



Seeing is Doing
Es ist eine besondere Leistung der Ausstellung, Asawas Arbeit immer wieder mit ihren schmerzhaften Kindheitserfahrungen und ihrer daraus entstandenen Lebensphilosophie zu verbinden. So schrieb sie 1948 an ihren späteren Mann Albert Lanier:
Wir alle haben unschuldig unter Intoleranz gelitten. Ich möchte diese Wunden nicht länger pflegen, ich möchte jetzt Finger verbinden, die von Aluminiumspänen zerschnitten und von Drähten zerkratzt wurden. Ich habe die Angst größtenteils überwunden … Diese Einstellung hat mich dazu gebracht, ein Bürger des Universums zu werden, wodurch ich kleiner werde, als wenn ich zu einer Familie, einer Provinz oder einer Rasse gehören würde. Dann kann ich mich gehen lassen und werde nicht so tödlich von hässlichen Bemerkungen verletzt.
Dem MoMA ist mit “Ruth Asawa” eine wunderbare Retrospektive gelungen, in der Biografie, Werk und Philosophie nahtlos ineinanderfliessen, als wären sie selbst Teil einer von ihren wundersamen Skulpturen. Hier wird die Geschichte einer Künstlerin erzählt, die aus widrigsten Umständen zur Galionsfigur einer ganzen Bewegung wurde.
Die Ausstellung ist noch bis zum 7. Februar am MoMA in New York zu sehen.