Sprache als Echo

Christine Sun Kim mit ihrer ersten Solo Ausstellung im Whitney Museum in New York

von Andreas Robertz

Sprache als Echo - Christine Sun Kim mit ihrer ersten Solo Ausstellung im Whitney Museum in New York
Christine Sun Kim, Degrees of Deaf Rage in Everyday Situations, 2018. Charcoal and oil pastel on paper, 49.25 x 49.25 in. (125 x 125 cm). Courtesy Y.D.C. © Christine Sun Kim. Courtesy François Ghebaly Gallery and WHITE SPACE 


Die in Berlin lebende amerikanische Künstlerin Christine (das e ist stumm) Sun Kim wurde 2020 auf einen Schlag in den USA berühmt, als sie zum Auftakt des Super Bowls, des Sportereignis des Jahres, die Nationalhymne live in ASL übersetzte, in die amerikanische Gebärdensprache. Ihre Performance übersetzte damals nicht nur den Text in Gebärdensprache, sondern sie verkörperte auch die Emphase und den emotionalen Gehalt der Hymne, wenn sie mit ihrem ganzen Körper das Wehen der Flagge nach umkämpfter Nacht ausdrückte oder mit einer, das ganze Stadium umfangenden Geste das Wort Heimat umschrieb. Für viele Amerikaner war es vielleicht das erste Mal, dass sie ASL als eine eigene Sprache erlebten und nicht nur als eine Ansammlung von Gebärden. Mit dem Titel “All Day All Night” richtet das Whitney Museum in New York nun die erste Solo Ausstellung der asiatisch-amerikanischen Künstlerin aus.


Originalbeitrag

Sprache als Echo

Christine Sun Kim öffnet ihre linke Hand, führt ihre rechte, ebenfalls geöffnete Hand zur linken Handfläche, berührt sie kurz mit dem Mittelfinger und lässt sie wieder wegschnellen, wie eine akustische Welle, die reflektiert wird. Diese Bewegung bedeutet in der amerikanischen Gebärdensprache das Wort Echo, ein Begriff, der sie fasziniert. Ihre Dolmetscherin Denise übersetzt: 

Ich mag den Begriff Echo sehr, schon visuell. Ich finde das Wort wunderschön, diese vier Buchstaben, ECHO, und er beschreibt sehr genau die Erfahrung einer tauben Person, dabei stammt er aus der Akustik. So wie jetzt gerade: Denise echot, was ich sage oder wiederholt, was ich gesagt habe, und dann wiederholt sie, was Sie sagen in Gebärdensprache. Ich sehe mir also einen Film mit Untertiteln an und die Untertitel sind ein Echo. 

Das Echo ist der Raum zwischen ihr und den anderen und in diesem Raum bewegen sich ihre Kunstwerke, seien es nun Videoinstallationen, Zeichnungen, Performances oder Skulpturen. Alles dreht sich um Kommunikation, die Funktion von Sprache und um das Vermitteln der Erfahrung einer tauben Person in einer von Tönen beherrschten Welt.

Christine Sun Kim and Thomas Mader, Tables and Windows, 2016. Two-channel HD video (color, no sound), Collection of the artists, courtesy SFMOMA, François Ghebaly Gallery, and WHITE SPACE. Photograph by Katherine Du Tiel 

Zum Beispiel in der Videoinstallation “Tables and Windows”: Wie bei einem lustigen Gesellschaftsspiel stehen der deutsche Konzeptkünstler Thomas Mader und Christine Sun Kim hintereinander – mal sie vorne, mal er –  und übersetzen Begriffe in Gebärdensprache: die hintere Person mit ihren Händen, die sie durch die angelegten Arme der vorderen Person durchgesteckt hat, die vordere mit ihrem Gesichtsausdruck; Nicht einfache Begriffe wie “Doppelglasfenster im Berliner Stil”, “wackelnder Tisch mit Sonnenschirmloch in der Mitte” oder “Biergartentisch mit rauer Oberfläche voller Splitter” – das ist manchmal sehr lustig, zeigt aber auch wie ungeheuer genau Gebärdensprache Dinge zu beschreiben vermag. 

Doch Christine Sun Kims bevorzugtes Medium sind ihre grossen, schwarz-weissen Kohlezeichnungen, erklärt Kuratorin Jennie Goldstein: 

Ihre Zeichnungen sind seit 2011, 2012, als ihre Karriere wirklich begann, Kohle auf Papier, schwarze Kohle, weißes Papier. Das ist ganz bewusst so. Es gibt keine Farbe, keine Bedeutung hinter einer Farbwahl oder so etwas. Sie möchte einfach ihre Erfahrungen, Ideen oder Konzepte so direkt wie möglich vermitteln.

Taube Wut

Die taube Künstlerin benutzt dabei oft universelle Sprachsysteme wie musikalische Partituren oder Geometrie als Werkzeug, um ihre Konzepte umzusetzen. Zum Beispiel in ihrer Reihe Degrees of Deaf Rage, was man mit Grad tauber Wut übersetzen könnte. Mit geometrischen Winkeln drückt sie die Stärke ihrer Wut in verschiedenen Lebenssituationen aus: ein 15 Grad Winkel für Arschlöcher, die sich nicht entschuldigen, 45 Grad für das Fehlen von Übersetzern in Konferenzen und 360 Grad für die Jahre, die sie mit Freunden und Familienmitgliedern erleben musste, die keine Gebärdensprache beherrschen. 

Sprache als Echo - Christine Sun Kim mit ihrer ersten Solo Ausstellung im Whitney Museum in New York
Installation View of Christine Sun Kim: All Day All Night (Whitney Museum mof American Art, New York, February 9 to July 6 2025), The Deaf Rage Series, Press Assets

Ein anderes wichtiges Werkzeug sind für sie musikalische Partituren:

Sie ist nicht daran interessiert, etwas zu spielen. Sie benutzt die Notation als eine Art Hilfsmittel, um anders über Klang nachzudenken. Sie stellt also diese faszinierenden Fragen wie. Was ist der Klang eines Gefühls? Wie macht man eine Partitur, in der es um das Gefühl der Erwartung geht?

Geisternoten

Oder um das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. In dem Wandgemälde “Ghost(ed) Notes” von 2024, das sich über mehrere Wände des Ausstellungsraumes zieht, sind in Abständen schwarze Noten auf die weisse Wand gemalt. Die Notenlinien schlängeln sich über oder unter den Noten herum, berühren sie aber nie. Dazu sagt Christine Sun Kim:

Wenn die Noten auf den Notenlinien stünden, würden sie einen Ton enthalten, aber keine der Noten sind auf den Notenlinien. Deshalb nennt man sie Ghost Noten. Es ist so, als ob die Notenlinien Angst hätten, die Noten zu treffen, und deshalb vermeiden sie sie. Aber es auch ein Kommentar zu: Jemand könnte dich ghosten, ein Familienmitglied zum Beispiel. Wir haben das alle schon persönlich erlebt, aber es passiert auch im Beruf. Man schickt eine Anfrage oder eine E-Mail, um ein paar Bildunterschriften hinzuzufügen, und dann hört man nie wieder etwas.

Sprache als Echo - Christine Sun Kim mit ihrer ersten Solo Ausstellung im Whitney Museum in New York
Installation View of Christine Sun Kim: All Day All Night (Whitney Museum mof American Art, New York, February 9 to July 6 2025), Press Assets

Die Ausstellung All Day All Night zeigt uns die Arbeit einer wichtigen Konzeptkünstlerin, die sich auf sehr originelle und hintergründige Weise mit dem Thema Kommunikation und Sprache beschäftigt. Und gleichzeitig führt sie die Besucher*innen in die taube Kultur und die faszinierende Welt der Gebärdensprache ein. Ihre erste Soloausstellung war längst überfällig. 

All Day All Night ist noch bis zum Juli 2025 am Whitney Museum in New York zu sehen.