Das Under the Radar Festival feiert seine 20ste Ausgabe in schwierigen Zeiten, mit Stücken, die gezeigt werden müssen
von Andreas Robertz

Es war 2005, also vor 20 Jahren, als in einer ehemaligen Grundschule des East Village in Manhattan eine Gruppe visionärer Theatermachern ein Festival für internationales experimentelles Theater gründete. George Bush führte seinen “War on Terror”, und in einer Zeit zunehmend einwandererfeindlicher Tendenzen wollte man ein Zeichen setzen, dass die USA ein weltoffenes Land sind und New York ein guter Ort für experimentelles Theater. Das Festival wurde schlagartig ein Hit und wenige Jahre später übernahm das Public Theater die Schirmherrschaft.. Bis 2022, als es in Folge der Pandemie wieder heimatlos wurde, bis eine Gruppe von unabhängigen Theatern Hilfe anbot. Seitdem ist das Festival an vielen Orten in der ganzen Stadt zu erleben.
Atmo “The Horse of Jenin”: Now everyone in Jenin is talking about an artist coming from outside of Palestine to Jenin. I wanna be an artist.
Als der deutsche Künstler Thomas Kilpper 2003 nach dem Ende der zweiten Intifada in das zerstörte Jenin im Westjordanland kam, baute er mit Jugendlichen aus Trümmern und Teilen verbrannter Autowracks ein riesiges, fast zwei Stockwerke hohes Pferd. Das “Pferd von Jenin” wurde zu einem Symbol der Freiheit und des Widerstands der Einwohner der Stadt. Der kleine Alaa sah ihm dabei zu und entschied, auch ein Künstler zu werden.
Atmo “The Horse of Jenin”: To us, this horse is much more, it’s not just a symbol of freedom to us. This horse, a symbol of our resistance, our resilience, our vitality. This horse is us.


Heute ist Alaa Shehada ein bekannter palästinensischer Stand Up Comedian und Schauspieler und hat seine Geschichte und die Geschichte des Pferdes zum “Under the Radar”-Festival gebracht. Mit viel Witz, Charme und tollen Masken lässt er die Menschen aus Jenin lebendig werden, erzählt vom ersten Kuss unter dem Pferd und wie er seinen besten Freund Ahmed mitten in der Nacht auf dessen Rücken half. Die israelische Besatzung scheint nur in Nebenbemerkungen auf. Ein urkomischer und liebevoller Abend gegen alle Opferstereotypen ist das, der dann doch sehr traurig endet: Sein Freund Ahmet wird bei einer Razzia erschossen und das Pferd im Oktober 2023 von der israelischen Armee aus Wut über den Angriff der Hamas zerstört.
Das Programm der diesjährigen Festivalausgabe ist so umfangreich und vielfältig wie selten zuvor. Das liegt nach den Worten von Festivalleiter Mark Russell auch daran, dass viele der teilnehmenden Theater ihre eigenen Vorschläge eingebracht haben.
Ich habe das Gefühl, dass das Festival dieses Jahr so schnell gewachsen ist, dass wir ein wenig die Kontrolle darüber verloren haben. Es sind jetzt 33 Shows in 24 Theatern. Ich weiß nicht einmal, ob ich alles sehen kann – was irgendwie falsch ist.
Da ist zum Beispiel der Abend “Loss” des kanadischen Performers Ian Kamau, der auf besonderen Wunsch des berühmten Apollo Theaters in Harlem eingeladen wurde: eine musikalische und visuelle Meditation zum Thema Verlust und Trauer. Persönliche Tagebucheintragungen von Ian selbst und von dessen verstorbenem Vater, Videoaufnahmen aus der Heimat Trinidad und eine suggestive Musik begleiten die Erzählung von seiner schon im Wochenbett verstorbenen Grossmutter und wie deren früher Tod das Leben seines Vaters, der später nach Kanada auswanderte, verändert hat. Das Ganze ist durchzogen von Melancholie, von griechischen Mythen und dem Duft von Hibiskus. Ein Abend, so berührend wie ein langsames Jazzstück von Miles Davis.
Einer der Schwerpunkte des Festivals sind Arbeiten aus dem Nahen Osten: Die Geschichte einer blinden Marathonläuferin aus dem Iran, einer Beamtin aus Beirut, die die Stromausfälle der Stadt historisch erforscht, oder die Uraufführung “A Knock on the Roof” der palästinensischen Dramatikerin Khawla Ibraheem von den Golan Höhen.


“A Knock on the Roof” – ein Klopfen auf dem Dach -, so werden die Warnbomben genannt, die fünf Minuten vor Einschlag der eigentlichen Rakete die Bewohner eines Hauses warnen sollen. Eine junge Mutter trainiert immer wieder den Notfall und versucht in fünf Minuten mit Notfalltasche und Sohn so weit wie möglich vom Haus wegzukommen. Ihre Obsession entfremdet sie von Freunden und Nachbarn.
Die Autorin erzählt das Stück auf leerer Bühne. Plötzlich verselbständigen sich die Schatten, die auf die Rückwand der Bühne geworfen werden. Sie entwickeln ein Eigenleben, und man ist sich nicht mehr so sicher, wie sehr sich die junge Frau von der Realität entfernt hat. Ein Stück über die Unmöglichkeit, sich auf den Schrecken eines Krieges vorzubereiten.
Für Mark Russell müssen diese Stücke gerade jetzt gezeigt werden, weil sie uns aufrütteln können. Das ist großes trotziges Theater aus einer Welt, in der es an allem fehlt. Die internationale Theaterszene jedenfalls scheint nichts von ihrer Vitalität verloren zu haben.