Mit 85 Jahren erzählt Tom Stoppard die Geschichte seiner jüdischen Vorfahren.
von Andreas Robertz
Der britische Dramatiker Tom Stoppard war bereits über 50 Jahre alt, als er erfuhr, dass seine beiden Großeltern Juden waren und in Auschwitz ermordet wurden. Seine Mutter wollte vermeiden, dass er als Jude in England diskriminiert würde und verschwieg ihre Familiengeschichte. Erst nach ihrem Tod besuchte Tom Stoppard seine Geburtsstadt in Tschechien. In seinem neues Stück Leopoldstadt, nach dem jüdischen Viertel in der österreichischen Metropole benannt, hat er ein Stück über eine Wiener Familie geschrieben, die viel autobiographisches Material enthält.
Im großbürgerlichen Zuhause der Familie Merz im Wien des Jahres 1899 wird Weihnachten gefeiert. Zusammen mit den eingeheirateten Jakobowicz schlürft man Punsch, erzählt Geschichten, debattiert über Politik und nebenbei auch über das Werk Theodore Herzls, der einen eigenen Staat für die Juden in Palästina fordert – eine völlig absurde Idee für den reichen Industriellen und Hausherrn Hermann Merz. Er ist gerade erst zum Katholizismus konvertiert, um seiner Familie endlich den gleichberechtigten Einzug in die österreichische Bourgeoise zu ermöglichen.
Verwirrende Parallelkulturen
Das führt zu verwirrenden Parallel-Kulturen, beispielsweise wenn eines der Kinder einen Davidsstern auf den Weihnachtsbaum steckt.
You’re not looking , is that right? Oh, it’s a beautiful star, darling, but it’s not the star we put at the top of our Christmas tree. Oh boy! Baptized and circumcised in the same week. What can you expect?
Leopoldstadt, das zwischen 1899 und 1955 spielt, ist ein fulminantes, zweieinhalb Stunden langes Stück in fünf Akten mit fast vierzig Schauspielerinnen und Schauspielern – eine selbst für den Broadway ungewöhnlich aufwändige und teure Produktion.
Regisseur Patrick Marber tut alles dafür, dass man die vielen Figuren auseinanderhalten kann. Er überblendet Stammbäume und stellt Gruppentableaus, die an alte Fotografien erinnern, oder lässt ein Kind ein Kleidungsstück an sein erwachsenes Selbst im nächsten Akt weitergeben. Nach der Jahrhundertwende kommen die ausgelassenen 20er Jahre, aus dem plüschigen Wohnzimmer wird ein eleganter Salon mit einem alles beherrschenden Portrait von Hermanns Ehefrau Gretel von Gustav Klimt. Nach dem Anschluss Österreichs 1938 kommt dann alles abrupt zum Stillstand. Während die Nachbarswohnung von deutschen Soldaten geplündert wird, sitzt die Familie minutenlang schweigend im Dunkeln. Der nächste Besuch gilt ihnen.
If they can get a visa, yes, the Germans will let them leave after robbing them of everything they had. Not everyone is willing to play their game. By a miracle Hermann has kept the business going through war, revolution, inflation, and now Anschluss, and saved it for Jacob. Why give it all away now? The Germans will take it.
All dies ist aus Filmen, Büchern und Theaterstücken bekannt. Die ersten drei Akte in Leopoldstadt stellen eine Gesellschaftskomödie dar, der vierte Akt ist eine Tragödie, der fünfte ein Epilog zehn Jahre nach Kriegsende, wenn Überlebende der Familie versuchen, das besagte Portrait von Großmutter Gretel wieder in ihre Hände zu bekommen. Das Thema Raubkunst findet nun auch einen Platz. Am Ende werden die Toten samt Todesursache aufgezählt. Viele Familienmitglieder wurden in Auschwitz ermordet.
Vielleicht wollte der heute 80-jährige Stoppard sein Publikum daran erinnern, wie zerbrechlich lang umkämpfte Errungenschaften sind, wie schnell sich Zeiten ändern können: eine schmerzvolle Realität dieser Tage, sowohl in Europa als auch in den USA. Oder er wollte das Publikum vor der Gefahr eines wachsenden Antisemitismus warnen. Doch braucht man dazu eine so aufwändige Produktion? Interessant ist, was in der Geschichte der Familie Merz und ihrer Nachkommen nicht erzählt wird. Zum Beispiel, dass das industrielle jüdische Großbürgertum ohne Probleme den Kaiser und seine Kriegsphantasien unterstützte, um sich assimilieren zu können. Oder dass die Gründung eines Judenstaates in Palästina so diskutiert wird, als würden dort nicht schon Menschen leben. Oder dass der Autor sein Stück nach dem jüdischen Viertel Leopoldstadt nennt, aber die privilegierte Familie Merz nie dort leben musste. Der winzige Ausschnitt jüdischen Lebens, den Tom Stoppard für seine Geschichte ausgewählt hat, ist ausgerechnet der, der am bekanntesten ist und am wenigsten das jüdische Leben in Europa charakterisiert.
Man fragt sich, für welches Publikum Tom Stoppard sein Stück geschrieben hat. Es wird sich zeigen, ob die Rechnung der Produzenten aufgeht, eine derart große Produktion an den Broadway zu bringen in Zeiten, in denen die Besucherzahlen nach wie vor weit hinter denen vor der Pandemie zurückliegen.