Das Under The Radar Festival zeigt zum 18. Mal neue Arbeiten zum Thema Isolation und Gemeinschaft
von Andreas Robertz
Das internationale Under The Radar Festival am Public Theater in New York gehört zu den Highlights zu Jahresbeginn. Es gehört zur wichtigsten amerikanischen Kulturmesse, auf der allein sechs Festivals Neues im Bereich Oper, Theater, Performance und Konzert zeigen. 2021 fand Under The Radar wegen der Pandemie nur abgespeckt und digital statt, und letztes Jahr musste das Festival kurzfristig abgesagt werden, weil die Omikron Variante die Infektionsraten plötzlich in die Höhe schnellen ließ. In diesem Jahr stand weniger Geld zur Verfügung und so hat die Festivalleitung sich hauptsächlich auf US-amerikanische Produktionen konzentriert und viele neue Kooperationspartner wie die Brooklyn Academy of Music oder die Public Library ins Boot geholt.
16 Zuschauerinnern und Zuschauer, 16 Stühle, ein leerer Raum. Vorne liegt ein Haufen Karten. Als alle Stühle besetzt sind, geht jemand von den Zuschauern nach vorne und liest die erste Karte vor. Wer war neulich erst wütend? Wer macht sich gerade Sorgen? Wer kann schlecht schlafen? Schnell findet man die, denen es ähnlich zu gehen scheint. Manchmal ist es lustig: Wer ist ein Arzt? Wer braucht einen Arzt? Gelächter, alle zeigen auf. Im dritten Teil der Theaterinstallation „A Thousand Ways“ des amerikanischen Theaterlabels 600 Highwaymen versammeln sich Fremde und teilen Erfahrungen. Waren es in Part I nur zwei Fremde, die sich zu einem – gescripteten – Telefonat trafen, saßen in Part II zwei Menschen an einem Tisch, von einer Glasscheibe getrennt. Überraschend ist, wie bereits in den vorangegangenen Teilen, die auf vielen internationalen Festivals zu sehen waren, wie schnell Fremde sich auf eine erstaunlich persönliche Erfahrung einlassen.
Mit 14 Produktionen allein im Hauptprogramm ist die diesjährige Ausgabe des Festivals ungewöhnlich groß ausgefallen. Dass die meisten Stücke dabei aus den USA kommen, habe mit Zusagen während der Pandemie zu tun und einem kleineren Budget, erklärt Festivalleiter Mark Russell:
Eigentlich sollte dieses Jahr alles nachgeholt werden, was in den letzten drei Jahren zwar eingeladen war, aber nicht kommen konnte. Ich wollte das zu Ende bringen. Doch dann habe ich mir Sorgen gemacht, dass alles nur ein großer Mischmasch wird, ohne roten Faden. Aber es stellte sich heraus, dass sich viele der Produktionen thematisch mit klassischen Texten beschäftigen.
Antigone, Gilgamesch, Moby Dick und James Joyce.Andere versuchen einen rituellen Erfahrungsraum zu schaffen. So etwa die Produktion „The Indigo Room“ des indigenen Theatermachers Timothy White Eagle aus Seattle. Der „Indigo Raum“ entstammt einem der Mythen nordamerikanischer Ureinwohner und meint das Innere eines Wals.
Hier erzählt White Eagle die Geschichte der Menschen von Turtle Island, die, verführt von falschen Versprechungen, loszogen, um zu nehmen, ohne geben zu müssen, bis sie ausgehungert das große Meer im Westen erreichen. Dabei singt er wie ein Schamane, kreiert faszinierende Bilder aus Kreidestaub im gleißenden Gegenlicht und erinnert sein Publikum daran, wie viel Kraft im Gleichgewicht von Geben und Nehmen liegt.
Ein besonders aufrüttelndes Erlebnis ist die Produktion KLII der New Yorker Performerin Kaneza Schaal. Auch sie findet Inspiration im Rituellen und lässt ihr Publikum sich die Hände mit frischer Seife waschen, bevor sie den Theaterraum betreten können. Dort sitzt sie im Halbdunkel als König Leopold II. von Belgien auf einem Thron und isst Schokoladenhände – eine belgische Spezialität.
Sie beschwört den Geist von König Leopold II., der für große Teile des Völkermords im Kongo verantwortlich war. Sie ist voll kostümiert, mit Bart und diesem unglaublich geschmückten Kleid und hält diese Art Hassrede von einer Leiter herab. Und der Text ist von Mark Twain.
Sie beschwört den Geist von König Leopold II., der für große Teile des Völkermords im Kongo verantwortlich war. Sie ist voll kostümiert, mit Bart und diesem unglaublich geschmückten Kleid und hält diese Art Hassrede von einer Leiter herab. Und der Text ist von Mark Twain.
Leopold II. ließ 1885 bis 1908 im damals von ihm so genannten „Freistaat Kongo“ auf riesigen Plantagen neben Kautschuk Palmöl ernten und damit Seife herstellen und in ganz Europa verkaufen. Der Reichtum Belgiens und vieler europäischer Seifenhersteller gründet sich auf dem enormen Profit dieser Plantagen. Wer das Tagessoll nicht erbringen konnte, dem wurden die Hände abgehackt, darunter auch vielen Kindern. Mit geschätzten 10 Millionen Toten insgesamt ist das eines der grausamsten Kapitel europäischer Kolonialgeschichte. Doch der Abend endet sehr persönlich. Kaneza Schaal entlässt den bösen Geist, entfernt Bart und Insignien und bereitet für alle Hibiskus Tee zu. Sie erzählt von ihrem Großvater, der seine Familie vor dem Völkermord in Rwanda rettete und mit einem Teehaus im benachbarten Burundi ihr Überleben sicherte. Schokoladenhände oder Hibiskustee – zwei Männer mit einem Erbe, wie es unterschiedlicher nicht sein könnte.
Das Under The Radar Festival 2023 zeigt, dass in der Rückbesinnung auf rituelle Wurzeln eine enorme Kraft auch für die Zukunft des Theaters liegt.