Abseits des akademischen Kunstkontextes
Seit 60 Jahren zeigt das American Folk Art Museum in New York Kunst, die abseits des akademischen Kunstkontextes entstanden ist : sei sie von Menschen, die mit Portraits ihren Unterhalt verdienten oder in ihrer Freizeit Teppiche webten, Menschen, die mit ihrer Kunst eine Tradition am Leben erhalten wollten oder im neurodiversen Kontext einen unmittelbaren Ausdruck ihrer Situation erschufen. Kunsthistorische Begriffe wie „naive Kunst“, „Außenseiter Kunst“, „unverbildete Kunst“ oder „rohe Kunst“ beschreiben den Versuch, diese Arbeiten in eine Kategorie zu zwängen. Die Kuratoren des American Folk Art Museums sprechen da lieber neutraler von „self taught art“, also von autodidaktischer Kunst. Mit mehr als 7000 Objekten gehört die Sammlung des American Folk Art Museum mittlerweile zu einer der größten dieser Art weltweit. Zum Geburtstag gibt es nun eine Ausstellung mit dem Titel Multitudes, die dokumentieren soll, wie breitgefächert und vielfältig die Sammlung ist.
von Andreas Robertz
Jason Bush: Vor 60 Jahren hat das alles sehr bescheiden begonnen: Es gab eine Galerie in einem Wohnzimmer über einem Deli in einem Stadthaus in Manhattan. Und damit begann der ehrgeizige Plan, eine Sammlung zu gründen, mit einer Bibliothek und Bildungszentrum und Menschen wirklich für autodidaktische Kunst zu interessieren. Und das tun wir immer noch.
Das American Folk Art Museum ist eine New Yorker Erfolgsgeschichte
Direktor Jason Bush kann zu Rechts stolz auf die Entwicklung des Museums sein. Was so klein und als Initiative von Sammlern begann, ist zu einer wichtigen Kulturinstitution im Kanon der New Yorker Museen geworden, mit einer imposanten Sammlung, Stipendien, Forschungsprojekten und einem Museumsbau direkt gegenüber der Metropolitan Opera und dem Lincoln Center.
Für ihn hat der Erfolg des Museums viel damit zu tun, dass man sich mit der Zeit aus der Enge des Begriffs „Volkskunst“ befreien und so die Sammlung einer breiteren Gruppe von Künstlern öffnen konnte:
Jason Bush: Volkskunst ist ein Begriff des 20ten Jahrhunderts. Autodidaktische Kunst dagegen ist ein umfassenderer Begriff, der eine globalere Perspektive auf Künstler über die Jahrhunderte hinweg meint; Künstler, die nicht durch ein formales Training beeinflusst sind, sondern durch ihren eigenen Einfallsreichtum und ihre Kreativität. Ihre individuellen Ausdrucksformen waren in manchen Fällen ein Mittel zum Leben und Überleben, ob sie im 19. Jahrhundert Unternehmer waren oder im 20. Jahrhundert inhaftiert, hospitalisiert und institutionalisiert.
Autodidaktische Kunst statt Volkskunst
Zum Beispiel die filigrane Sammlung von kleinen Tieren, Hüten und Alltagsobjekten, die der aus Kanada stammende Schuhmacher Philip Pellegrinoin den 1950er Jahrenaus Leder erschuf, während er auf Kunden wartete. Oder die mehr als dreißig ausgestellten Holzfiguren der aus North Carolina stammenden Bildhauerin Annie Hooper. Sie begann nach einem längeren psychiatrischen Aufenthalt ihr Haus mit seltsamen Figuren zu bevölkern, die sie aus Treibholz fertigte und die allesamt aus einem Krippenspiel stammen könnten.
Oder die Gemälde, Zeichnungen, Collagen und Schriften des Henry Darger, dessen ungeheures Oeuvre erst nach seinem Tod in seiner kleinen Chicagoer Wohnung entdeckt wurde.
Schätze hinter jeder Ecke
Mehr als 400 Arbeiten sind zu sehen und zuweilen fühlt sich die Ausstellung wie ein nostalgischer Kuriositätenladen an, in dem man hinter jeder Ecke einen unentdeckten Schatz vermutet. Viele der Objekte sind von Menschen, die sich selbst nicht als Künstler gesehen haben.
Kuratorin Valérie Rousseau hat die Ausstellung bewusst keiner chronologischen Ordnung unterworfen. Für sie liegt die Magie vieler Arbeiten in ihrem Alltagsbezug und ihrer Zeitlosigkeit.
Valérie Rousseau: Viele der Arbeiten resonieren mit uns auf besondere Weise, weil sie außerhalb der kunsthistorischen Diskurse geschaffen wurden, als Teil des alltäglichen Lebens und mit der Fertigkeit ihrer Macher. Es gibt dadurch eine spezielle Verbindung, obwohl sie Jahrhunderte von uns entfernt sind.
Abseits des akademischen Kunstkontextes
Es gibt neben vielen Portraits eine Sammlung erstaunlich detailgenauer Entenattrappen, kunstvoll gesteppte Decken, Modeentwürfe, bemalte Fotografien, Objekte in Flaschen, wie bei einem Buddelschiff, Schaufensterfiguren, anatomische Objekte und gestickte Bilder, Fotocollagen und Videokunst, Dekoratives und Konzeptionelles. Viele der Künstler*innen, die sich nicht ins ästhetischen Vokabular eines Kunstmuseums haben einordnen lassen, fanden im Laufe der Zeit in der Sammlung des American Folk Art Museums eine Heimat und wurden dann erst später von Kunstmuseen „entdeckt“. Zum Beispiel der afro-amerikanische Maler Sam Boyle, der auf einer kleinen Insel vor der Ostküste der USA lebte und dessen grobe, bunte, fast wie Karikaturen wirkende Portraits von Mitgliedern seiner Community für viele Kuratoren als visionär angesehen werden.
Valérie Rousseau: Diese Menschen haben sich bewusst oder notwendig dazu entschieden, sich dieser zeitraubenden Tätigkeit zu widmen. Das ist oft zwanghaft. Sie haben Platz dafür in ihrem Leben gemacht. Das finde ich sehr inspirierend, weil es uns autorisiert, selbst Künstler zu sein und außerhalb der Grenzen zu denken, in denen wir uns niedergelassen haben.
Erfrischend unprätentiös
Dem Museum ist mit Multitudes eine Ausstellung gelungen, bei der einem das Herz aufgeht. Viele der Arbeiten sind faszinierend und zeigen in ihrer unaufdringlichen Schönheit einen erfrischend unprätentiösen Zugang zu Kunst und der Bedeutung von kreativem Schaffen. Für die Zukunft wünscht sich Direktor Jason Bush noch mehr Offenheit gegenüber Künstler*innen, denen so oft der Zugang zu Kunstinstitutionen verwehrt wird.