Einmal in den Tartarus und zurück
von Andreas Robertz
Das Gefühl, nur ein Spielball größerer Kräfte zu sein, mag sich dieser Tage für Viele vertraut anfühlen: Krieg, politische Machenschaften, das Klima und die Pandemie. In der Zeit Homers um 760 vor Christus waren es eifersüchtige und rachsüchtige Götter, die das Schicksal der Menschen bestimmten. Für den schwarzen US Dramatiker Marcus Gardley gehört dieses Gefühl untrennbar zur Geschichte der afro-amerikanischen Bevölkerung in den USA. Seine fulminante Bearbeitung von Homers Odyssee versetzt die Geschichte des Odysseus ins heutige Harlem, wo er – als Soldat aus dem Irakkrieg zurückgekehrt – traumatisiert und verloren seinen Weg zurück zu seiner Familie finden muss.
Es ist schon ziemlich komisch, wenn man sich mit griechischer Mythologie auskennt und dann die Brüder Poseidon und Zeus beim Schachspiel streiten sieht. Besonders, wenn Poseidon Zeus` Kinder durch den Dreck zieht: Aphrodite sei eine Hure, Apollo könne nicht singen, auch wenn ein berühmtes Theater in Harlem nach ihm benannt sei, und Persephone brauche ernsthaft eine Therapie, weil sie nicht entscheiden könne, ob sie nun bei ihrer Mutter Demeter oder bei ihrem Geliebten Hades sein wolle. Doch am Schlimmsten sei Athene, die immer alles besser wisse, streitsüchtig und rechthaberisch sei. Vor allem, weil sie den Soldaten Ulysses beschütze, der Poseidons einzigen Sohn im Irak getötet habe.
Rache schmeckt am besten roh
Poseidon, der hier Paw Sidin heißt, schwört, das Leben des Helden und dessen Familie zu zerstören. „Revenge is a meal served best raw“- Rache sei eine Mahlzeit, die am besten roh serviert werde, sagt er und zieht aus, um als Marineoffizier Penelope die Nachricht von Ulysses Tod zu übergeben. So beginnt ein Wettlauf um Ulysses Seele, die Liebe seiner Frau und das Leben seines Sohnes Malachi.
In Stevie Walker-Webbs schneller und einfallsreicher Inszenierung sitzt das Publikum wie in einer Arena um die Bühne, die aus einer schimmernden blauen Fläche besteht, auf der ein Boot das einzige Requisit ist. Das unglaublich wandlungsfähige neunköpfige Ensemble führt in zweieinhalb Stunden sein Publikum in einer Mischung aus Drama, Reality TV und Parodie mit 70er Jahre Glamour einmal in den Tartarus – den tiefsten Teil der Unterwelt – und zurück. Aus den Sirenen werden die Soul SängerInnen Diana Ross, Tina Turner und James Brown in herrlich kitschig-blauen Glitzerkostümen; aus dem blinden Seher Tiresias wird Mister Super Fly im Afrolook, Goldkette und Sonnenbrille; und Hexe Circe versucht Ulysses mit einem sehr komischen Monolog zu verführen, der aus der Beschreibung von Soul Food Rezepten besteht.
Doch bei all dem Spaß findet das Stück auch immer wieder zu einem ernsten Ton zurück. Zum Beispiel, wenn der vom Krieg im Irak traumatisierte Ulysses sich in Harlem einer Gehirnoperation unterziehen muss. Während der Narkose betritt er den Tartarus, das Totenreich der alten Griechen.
Katrina lässt grüßen
Der Ort ist völlig überschwemmt, nur Dächer ragen aus dem Wasser heraus, auf denen Menschen sitzen, die seit Jahren auf die Hilfe der amerikanischen Regierung warten. New Orleans nach dem Wirbelsturm Katrina lässt grüßen. Auf einem Dach pfeift Emmet Till, auf einem anderen Trayvon Martin, auf einem dritten die Scottsboro Boys, alles traurig-berühmte Opfer rassistischer Gewalt. Die Millionen von ertrunkenen Sklaven auf dem Weg nach Amerika kann Ulysses im trüben Wasser nur ahnen.
Tyre Nichols
Es sind diese abrupten Wechsel in „Black Odyssee“, die das Stück so attraktiv machen. So auch, wenn Ulysses Sohn Malachi beim Schwarzfahren in der U-Bahn erwischt und von zwei schwarzen Polizisten mit gezogener Waffe gestellt wird – sekundenlange Stille. Der schreckliche Tod von Tyre Nichols in Memphis kommt in den Sinn. Er war im Januar nach einer Verkehrskontrolle von fünf schwarzen Polizisten zu Tode geprügelt worden. Die Reaktionen des überwiegend schwarzen Publikums erzählen vom Schock dieser Bilder.
Geschichte mehr als historischen Einzelheiten
Die Idee, Homers Odyssee als Vorlage für ein Stück über die Geschichte der afroamerikanischen Community zu verwenden, ist nicht neu – man denke zuletzt an Susan-Lori Parks „Father Comes Home from the Wars“. Im Zentrum stehen dabei immer Menschen, die sich an ihre und die Geschichte ihrer Vorfahren erinnern müssen, um in die Zukunft blicken zu können. Doch in „Black Odyssee“ besteht Geschichte aus mehr als historischen Einzelheiten. Sie besteht aus dem kulturellen Reichtum einer Gruppe, ihrer Musik, ihren Rezepten, ihrem Humor, ihren Göttern und ihrem Leid. Am Ende findet Ulysses seine Erinnerung und seine Familie wieder und erkennt seine Schuld am Tode des jungen Mannes im Irak an. Zeus kann seinen Bruder Poseidon beschwichtigen und Athene endlich wieder in den Olymp zurückkehren.
Marcus Gardley gelingt mit seiner Adaption eine große epische Reise durch 400 Jahre afro-amerikanischer Kulturgeschichte, die unmissverständlich im Heute ankommt: ein Stück, das sicher auch am Broadway sein Publikum finden würde.