Charles Ray Retrospektive am Met

Grosse Retrospektive mit viel Platz zum Schauen

von Andreas Robertz

Charles Ray am Met
Ausschnitt Charles Ray, Boy with Frog, photograph by Robertz

Charles Ray gilt als einer der größten lebenden Bildhauer in den USA. Er ist bekannt durch seine provokativen Motive und seine perfektionistische Arbeitsweise. Manche seiner Arbeiten brauchten viele Jahre der Entwicklung mit verschiedenen Materialien, bis sie endlich fertig waren. Die New York Times nannte ihn kürzlich Amerikas tiefgründigsten und langsamsten Bildhauer. Einer seiner bekanntesten Arbeiten „Boy with Frog“ – ein übergroßer nackter Junge mit einem Frosch in der ausgestreckten Hand – wurde nach einer Facebook Kampagne 2013 aus Venedig entfernt und mit einer historischen Straßenlampe ersetzt – sehr zum Entsetzen vieler Kunstliebhaber. Vielen Venezianern war der nackte Junge ein Dorn im Auge. Das Metropolitan Museum of Art eröffnet nun eine Retrospektive des Künstlers, die Werke aus 50 Schaffensjahren zeigt.



Charles Ray spricht nicht gerne über sich. Da scheint es geradezu ironisch zu sein, dass seine Retrospektive mit einem Selbstportrait beginnt. Das Bild ist von einem kommerziellen Studiofotografen gemacht und zeigt ihn im roten Flanellhemd vor hellblauem Hintergrund mit steif vor der Brust verschränkten Armen. Bei genauem Hinsehen sieht man, dass es eine Puppe ist. Kuratorin Kelly Baum:

Kelly Baum: Ray hat sich sehr unkonventionell dazu entschieden mit dem Foto seines eigenen Modells zu beginnen und der Titel ist „No“. Also das erste, was wir sehen, ist eine Weigerung zu erscheinen und zu sprechen.

Charles Ray am Met

No, 1992, Chromogenic print in artist’s frame

Charles Ray am Met

Wegen der Pandemie kam der Zeitplan verschiedener Charles Ray Ausstellungen durcheinander und so sind viele seiner Arbeiten gerade auch in London und Paris zu sehen. Deswegen konzentriert sich die Ausstellung ganz auf sein bildhauerisches Schaffen. Selbst die Fotografien aus der Anfangszeit zeigen ihn, wie er sich mit Hilfe einer Planke an einer Wand fixiert. Sein Köper als Material einer Skulptur.

Kelly Baum: Es gibt nur 19 Objekte in der Schau: Skulpturen, ein Relief und drei Fotografien. Darunter sind Arbeiten aus jeder Dekade seines Kariere, von den 70ern bis heute.

Boy with frog, 2009 Painted stainless steel: photograph by Robertz 

Da stehen zum Beispiel der große schneeweiße nackte Junge mit dem Frosch in der Hand in der Nähe eines silbernen Feldtraktors, den Ray bis auf die kleinste Schraube original in Aluminium nachgegossen hat. Beide Arbeiten beschäftigen sich unter anderem mit Kindheitserinnerungen.

Charles Ray am Met
Tractor, 2005 
Aluminum , photograph by Robertz

Kindheit, Nacktheit, erotische Nähe, Neugier

Wie auch die beiden aus schimmerndem Edelstahl gegossenen Figuren „Huck and Jim“. Die nach einem Motiv aus Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ imaginierte Szene zeigt den Schwarzen Jim aufrecht stehenden und in die Weite schauend, während  neben ihm der gebückte weiße Huck etwas lachend aus dem Wasser zieht. Beide Figuren sind nackt.

Huck and Jim, 2014, Stainless steel 
photograph by Josh White 
© Charles Ray, Courtesy Matthew Marks Gallery 

Kindheit, Nacktheit, erotische Nähe, Neugier – diese Themen sind immer wieder wichtige Elemente in Charles Rays Figuren. Kuratorin Kelly Baum:

Kelly Baum:  Bevor er mit „Huck and Jim“ begann, hat er sich gefragt, wie kann ich eine amerikanische Skulptur mit einem amerikanischen Thema für ein amerikanisches Museum machen. Ich finde es sehr aufschlussreich, dass er sich für Mark Twains Huckleberry Finn entschieden hat, einen Roman, in dem Sklaverei und rassistische Gewalt eine wichtige Rolle spielt. Amerika durch die Perspektive des Romans zu sehen, ist sehr provokativ. Er wollte aber auch die Beziehung zwischen einem versklavten schwarzen Mann und einem weißen Jungen, der von seinem Vater wegläuft, herausarbeiten. Beide suchen Freiheit.

Huckleberry Finn als amerikanisches Dilemma

Mit der Wahl entschied sich Ray, das Rassismus und Gewalt, aber auch Freundschaft und Unschuld zu den zentralen Motiven Amerikas gehört. Während Jim im Roman nur klischiert dargestellt wird und Huck ihn sehr herablassend behandelt, macht Ray sie hier zu ebenbürtigen Figuren. Jim streckt seine Hand über Hucks gebeugten Rücken, in dem kleinen Abstand zwischen Hand und Rücken scheint eine ganze Welt aus Sehnsucht und Unmöglichkeit zu liegen.

Erzengel aus der Balance

In der Ausstellung sind auch ganz neue Arbeiten von Charles Ray zu sehen: zum Beispiel „Archangel“ – „Erzengel“ –  eine vier Meter hohe Figur aus Zedernholz. Sie zeigt die schlanke Gestalt eines halbnackten jungen Mannes mit hochgekrempelter Jeans und Flip Flops, der versucht mit weit ausgestreckten Armen auf einer kleinen Kiste sein Gleichgewicht zu finden. Die Arbeit wurde durch das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris inspiriert. Denn der Erzengel Gabriel wird in allen drei abrahamitischen Religionen verehrt. Kuratorin Kelly Baum:

Kelly Baum: Ich sehe in der Figur das Risiko zu Fallen. Die Art wie er auf der Box steht zeigt, dass er sein Gleichgewicht noch nicht gefunden hat. Er hat Schwierigkeiten es zu finden. Er wird zu einer Allegorie für die Welt, in der wie leben, der Mangel an Balance, das Gefühl zu haben, dass die Kräfte außer Kontrolle sind.

Archangel, 2021 
Cypress 
photograph by Takeru Koroda 
© Charles Ray, Courtesy Matthew Marks Gallery 

Den Ausstellungsmacher ist mit „Charles Ray: Figure Ground“ eine durchweg beeindruckende Schau gelungen, die trotz der relativ wenigen Arbeiten eine guten Überblick und tiefen Einblick in Charles Rays Schaffen gibt.

Die Ausstellung Charles Ray: Figure Ground ist noch bis zum 5. Juni zu sehen.