Der Mythos des authentischen Selbst

„Gillian Wearing: Wearing Masks“
Erste Retrospektive der britischen Künstlerin in Nordamerika im Guggenheim.

von Andreas Robertz

Der Mythos des authentischen Selbst "Gillian Wearing: Wearing Masks"am Guggenheim
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In den letzten Wochen wurden im Zuge der Facebook Enthüllungen viel darüber diskutiert, wie problematisch die Propaganda der „perfekten“ Figur und des „perfekten“ weiblichen Image auf Instagram für das Selbstwertgefühl von Mädchen und jungen Frauen ist. Die Selfie-Kultur, der Effekt sozialer Medien, das ständig mit der Außenwelt abgeglichene Selbstbild: für Viele der Inbegriff einer zutiefst als problematisch empfundenen Identitätskrise. Dabei bieten die sozialen Medien gerade auch für junge Menschen Möglichkeiten, sich auszuprobieren und den digitalen Auftritt selbst zu bestimmen. Die Frage bleibt: Wann tragen wir eine Maske und wann sind wir authentisch? Die britischen Fotografin und Videokünstlerin Gillian Weather hat sich Zeit ihres Lebens mit der Fragen beschäftigt. Das Guggenheim Museum in New York hat ihr nun in ihrer Ausstellungsreihe über wichtige weibliche Fotografinnen eine eigene Retrospektive gewidmet – die erste in Nordamerika.


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One of my hopes is that the performers would be able to be more convincing than me …

Ich hoffe, dass die Performer mich überzeugender darstellen, als ich mich selbst.“ Gillian Wearing spricht in ihrer Videoarbeit Wearing Gillian direkt zum Publikum, zusammen mit verschiedenen Darstellerinnen und Darstellern, die manchmal mit ihrer eigenen Stimme, manchmal mit einer anderen sprechen. Sie alle tragen Gillians Maske.

Hello. My name is Gillian. I’m an artist and identity are the things that interest me in my work, I believe that identity is fluid….

Sie glaube, Identität sei etwas Fluides, nichts Statisches, sagt sie im Film. Das Spiel mit Identitäten, das Hineinschlüpfen in andere Charaktere und das Ausloten der eigenen öffentlichen Wirkung durchzieht das ganze Oeuvre der heute 57-jährigen. In den 80er Jahren habe sie bereits mit Selbstportraits mit ihrer Polaroid Kamera experimentiert, als es das Selfie noch gar nicht gab, erklärt Kurator Nat Trotman:

Nat Trotman: Wearing ist jemand, deren Arbeit auf fast schon unheimliche Weise vorausschauend ist, sei es in Bezug auf Reality TV oder soziale Medien oder auch auf heute, wo wir unsere Beziehungen während der Pandemie durch die Nutzung von Zoom verändert haben. Ihre Arbeit reagiert nicht ausdrücklich auf diese kulturellen Trends, aber sie hat eine erstaunliche Kraft, mit der sie die Psychologie und die Gefühle zeigt, die mit diesen Entwicklungen einhergehen.

Die leibliche und die spirituelle Familie

Viele ihrer Selbstportraits sind ihrer leiblichen und ihrer, wie sie es nennt, spirituellen Familie gewidmet: Gillian Wearing als Andy Warhol, als Diane Arbus, als Robert Mapplethorpe, als ihr Großvater George, ihr Bruder Richard. Sie trägt naturgetreue Silikon-Masken, Haare, Kleidung und Gebärden sind genau inszeniert. Anders als bei der US-amerikanischen Fotografin Cindy Sherman, die Make-up für ihre Verwandlungen benutzt und deren Arbeit sich mit Stereotypen und Wahrnehmung auseinandersetzt, ist die Illusion bei Gillian Wearer von manchmal fassungsloser Perfektion.

"Gillian Wearing: Wearing Masks"am Guggenheim
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Zum Beispiel, wenn sie sich als die US amerikanische Fotografin Diane Arbus fotografiert, in etwas zu engen Jeans, kurzen Haaren und mit der ikonischen Spiegelreflexkamera mit der Doppellinse um den Hals. Zärtlich und beschützend umgreifen ihre Hände die Kamera, ihr Blick ist scharf, beobachtend, direkt.

Nat Trotman: Sie benutzt ihre Augen sehr bewusst. Augen sind das Fenster zur Seele, aber sie sind auch geschützt. Wie wir aus der feministischen Kunstgeschichte wissen, steckt viel Macht im Blick. Auf all ihren Fotos, auf denen sie Masken trägt, starrt sie immer direkt nach vorne und behauptet sich, während sie sich durch die Masken schützt.

Der Mythos des authentischen Selbst "Gillian Wearing: Wearing Masks"am Guggenheim
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Der Mythos des authentischen Selbst "Gillian Wearing: Wearing Masks"am Guggenheim
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Die Spannung zwischen echter und gespielter Realität

Wearings Arbeiten haben etwas Spielerisches und Gewagtes, denn in ihnen träumt sie sich in die Haut einer anderen Person. Das erinnere an die Arbeit eines Schauspielers, findet Kurator Nat Trotman.

Nat Trotman: Was Gillian am Schauspielen – besonders beim Method Acting –  interessiert, ist die Technik. Sie will, dass die Menschen über ihre eigenen persönlichen Lebenserfahrungen nachdenken und daraus eine Fiktion zu kreieren. Aber die Fiktionen, die wir dann sehen, fühlen sich manchmal realer an als die Realität, die wir tagtäglich erleben. Diese Spannung zwischen Anführungszeichen „echter Realität“ und „gespielter Realität“ ist etwas, was sie völlig fasziniert.

Der Mythos des authentischen Selbst

Auch in ihren vielen eigenen Selbstportraits trägt Gillian Wearing eine Maske: Gillian als 3 jährige, als 27jährige, als Traumversion, als Mona Lisa in London. Es drängt sich die Frage auf, wer Gillian Wearing wirklich ist.

Nat Trotman: Gillians Werk fragt danach, was Authentizität ist. Wenn wir alle immer irgendeine Version von uns spielen, dann ist das authentische Selbst vielleicht in allen diesen Performances anwesend. Es muss ja nicht ein authentisches Selbst geben. Ihre Arbeit demontiert die Vorstellung einer singulären Authentizität und ermöglicht Fluidität, ein flüssigeres Selbstverständnis.

"Gillian Wearing: Wearing Masks"am Guggenheim
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Das Guggenheim Museum zeigt über 60 von Gillian Wearings Selbstportraits, dazu Skulpturen, Objekte und Videoarbeiten. Mit viel Liebe zum Details stellen die Ausstellungsmacher damit dem New Yorker Publikum eine Künstlerin vor, deren Reflektion über Medien und Selbstdarstellung fasziniert und gleichzeitig das Verhältnis zu unseren eigenen Maskierungen, virtuell oder real, hinterfragt.

Die Ausstellung Gillian Wearing: Wearing Masks ist noch bis zum 4. April 2022 am Guggenheim Museum in New York zu sehen.