Unter dem Titel “To Look without Fear” zeigt das MoMA eine grosse Retrospektive des deutschen Fotografen, Musikers und Videokünstlers Wolfgang Tillmans.
von Andreas Robertz
Nach 18 Monaten Verspätung bedingt durch die Pandemie ist es für Wolfgang Tillmans endlich soweit: Unter dem Titel „To Look without Fear“ zeigt das MoMA in New York eine Werkschau seiner Arbeiten aus 35 Jahren, ein absoluter Höhepunkt im Schaffen des Künstlers. Und es zeigt sich, für den deutschen Fotografen gingen gesellschaftliches Engagement und künstlerische Arbeit immer schon Hand in Hand.
“Es ist eine sehr übergreifende Ausstellung, die Wolfgangs Arbeit im Wesentlichen von Mitte der 1980er Jahre bis zur Gegenwart abdeckt. Und das im sechsten Stock des Museum of Modern Art, dem größten Ausstellungsraum hier.”
Kuratorin Roxana Marcoci ist sichtbar erleichtert, dass die Ausstellung nun endlich nach acht Jahren Vorbereitungszeit eröffnet werden kann. Sie ist eine opulente Ausstellung mit mehr als 400 seiner Arbeiten: Fotografien, Foto- und Audio-Installationen und Videoarbeiten. Wolfgang Tillmans ist im MoMA angekommen.
Schauen ohne Angst
Programmatisch gleich am Beginn der Ausstellung sein Bild „Sheep Shadow“ auf der man ein Schaf von oben herab fotografiert sieht, das anscheinend zwei Schatten auf den Boden wirft. Ich möchte meinen Augen trauen, sagt Tillmans in der Einführung, aber ich muss erst mal verstehen, wie meine Augen sehen. Dazu Kuratorin Roxana Marcoci.
“Er hat kalkuliert, wie die Sonne auf das Tier fällt, so dass es so aussieht, als hätte es zwei Schatten, aber tatsächlich sind es zwei Schafe. Die Idee, hinzusehen und dann nochmal hinzusehen, damit man wahrnimmt, was wirklich da ist und nicht, was man denkt wahrzunehmen, ist eine grundsätzliche philosophische Frage in all seinen Bildern.”
Die Lust am Augenblick
Hat man sich erst mal an die Fülle des Materials gewöhnt und seinen Augen tatsächlich die Erlaubnis gegeben, einfach zu schauen, erfährt man neben der ungeheuren Vielfalt an Motiven und Themen vor allem viel über Tillmans Lust am Augenblick, die allen seinen Arbeiten inne zu wohnen scheint: den frühen Bildern, seinen provokativen Nacktaufnahmen und den vielen Portraits aus der Partyszene der 80er und 90er Jahre; seinen ruhigen Stillleben, den astronomischen Fotografien und seinen Collagen zum Thema Wahrheit und politisches Engagement – was sich auch in seinem Fotoreportagen über LGBT Aktivisten in Russland und Uganda und die Black Lives Matter Proteste in New York widerspiegelt.
“Er ist immer an der Beziehung zwischen der eigenen Existenz und der Welt interessiert, aber auch sich mit etwas zu beschäftigen, was viel weiter weg ist. Was passiert, wenn man nicht mehr gesehen werden kann, wenn man zu weit weg ist? Das bezieht sich auch auf den eigenen Platz in der Welt.“
Filme als fotografierte Zeit
Die Ausstellung zeigt auch Tillmans unbekannteres Interesse an Videoarbeiten und Musik. Zum Beispiel, sein Film „Mond im Erdlicht “, der in 22 Sequenzen von Bewegungen handelt: von den dramatischen Lichtwechseln eines in Zeitraffer aufgenommenen Straßenzugs in LA bis hin zu einem Turner, der in einem silbern abgehängten Raum auf einem Pferd seine Übungen macht. Roxana Marcoci:
“In seinen Filmen, sagt Wolfgang, fotografiere er Zeit. Hier gehört auch sein erstes Album mit dem gleichnamigen Titel „Moon in Earthlight“ dazu, denn seine Beschäftigung mit Musik kam noch vor der Fotografie.“
Im Zentrum das Portrait
Doch im Zentrum von Tillmans Arbeit steht immer wieder das Portrait. Zum Beispiel, das Bild mit dem schwulen amerikanischen Musiker Frank Ocean, der aus einer Dusche kommt und eine Hand über sein Gesicht legt, als wolle er nicht fotografiert werden. Ein bandagierter Finger verstärkt den Eindruck von Verletzlichkeit. Oder das Portrait eines jungen Mannes in einem rosa Kaftan vor einer rosa Limousine; Lässig steht er neben dem Statussymbol, während seine weichen, schüchternen Augen den direkten Blick in die Kamera meiden.
“Die Bilder, die ich von Menschen gemacht habe, sollten immer Menschen an sich darstellen. Natürlich, an sich gibt es keine Menschen. Es gibt immer bestimmte, aber mich interessiert das Umfassende oder Übergreifende. Und ich wollte nie sagen, in diesem Stillleben, das ist mein Essen, das ist meine Kleidung. Insofern ist das ganze Werk diametral der heutigen Social Media Fotografie entgegengesetzt.” Wolfgang Tillmans
Wer keine Angst vorm Hinschauen hat erwartet hier am MoMA die Welt des Wolfgang Tillmans, wie man sie so noch nie gesehen hat.
Die Ausstellung „To Look Without Fear“ ist bis zum 1. Januar 2023 am MoMA zu sehen.